Lateinamerika

Chile nach links oder rechts? – Endspurt bei Volksabstimmung für neue Verfassung

Über 15 Millionen Chilenen können am Sonntag wählen gehen. Werden sie nach einem Jahr intensiver Debatten und Kampagnen die neue Verfassung annehmen? Damit würde die derzeitige Charta Magna ersetzt, die unter dem Diktator Augusto Pinochet in den 1970er Jahren verfasst wurde.
Chile nach links oder rechts? – Endspurt bei Volksabstimmung für neue VerfassungQuelle: www.globallookpress.com © Claudio Abarca Sandoval / www.imago-images.de

Von Maria Müller

Über 15 Millionen Chilenen sind aufgerufen, am nächsten Sonntag zu den Wahlurnen zu gehen. Den Umfragen zufolge hat die "Ablehnung" des neuen Verfassungsentwurfs bislang eine Mehrheit zwischen 46 und 55 Prozent, während die "Zustimmung" zwischen 33 und 38 Prozent rangiert. Das Wahlverhalten der Unentschlossenen wird somit entscheidend sein.

Die öffentliche Diskussion war intensiv. So sehr, dass der publizierte Verfassungstext ein "Bestseller" wurde und nun an der Spitze der meistverkauften Sachbücher des Landes steht. Es wurden auch digitale Ausgaben als Hörbuch oder Podcast verkauft. Dazu kommen die kostenlose Version auf der Webseite des Kongresses, und die Millionen von zusammenfassenden Kurzdarstellungen, die von der Regierung gedruckt und auf den Straßen verteilt wurden.

In den letzten Monaten gab es eine Fülle von Briefen, Versammlungen und Erklärungen von Persönlichkeiten, Organisationen und politischen Parteien, die ihre Positionen definierten. Alle sprachen über die Volksabstimmung und die Verfassung.

Die Stellungnahmen der Ex-Präsidenten

Besondere Wirkung hatten die Stellungnahmen der früheren Präsidenten. Michelle Bachelet sprach sich dafür aus; Eduardo Frei, dagegen; und Ricardo Lagos äußerte seine Einwände, ohne jedoch seine Position preiszugeben. Lediglich Sebastián Piñera schwieg, obwohl die Rechte vollumfänglich die "Ablehnung" wählen wird.

Die Kampagnen von Befürwortern und Gegnern

Die Befürworter der neuen Verfassung betonten, wie wichtig es sei, dass die Zustimmung durchkomme. Denn nur so könnten weitere Verbesserungen verwirklicht werden. Ohne den gesetzlichen Rahmen für notwendige Veränderungen zu schaffen, bleibe die Pinochet-Verfassung in Kraft und die politische Rechte werde sich erneut jeder juristisch abgesicherten Erneuerung verweigern.

Die Befürworter der "Ablehnung" versprachen ihrerseits, dass sie im Falle eines Sieges eine neue verfassungsgebende Versammlung unterstützen würden, die ein völlig neues Dokument entwirft. Sie haben sich seit über vier Jahrzehnten geweigert, das zu tun.

Das Ergebnis wird die Regierungsfähigkeit beeinflussen

Die Volksabstimmung ist für den jungen Präsidenten Gabriel Boric eine große Herausforderung. Ein Teil seines Regierungsprogramms ist von der neuen Verfassung abhängig. Zudem war er einer ihrer Hauptförderer. Im Falle einer Niederlage im Referendum muss er seine Projekte neu orientieren.

Der Präsident versicherte immer wieder, dass die staatlichen Instanzen keine Partei dafür oder dagegen ergreifen dürfen, dass man von Regierungsseite aus lediglich über die Volksabstimmung berichten könne, und dass beide Optionen gleichermaßen gültig seien. Er räumte ein, dass die "Ablehnung" gewinnen könnte. Dennoch übte die Opposition beständig Druck auf ihn aus und beschuldigte ihn, sich in den Prozess einzumischen und für die Zustimmung zu werben.

Die neue Charta Magna ist eine der modernsten der Welt

Die Initiatoren von "Ich stimme dafür" haben eine intensive Aufklärungskampagne geführt. Sie verdeutlichten, dass die neue Charta Magna eine der modernsten und innovativsten weltweit sei.

Das Dokument – ​​das aus 388 Artikeln besteht, im Gegensatz zu den 129 Artikeln der Charta Magna der Diktatur – wurde von einem demokratisch gewählten Gremium, dem Konvent, ausgearbeitet. Er besteht aus zehn thematischen Arbeitskommissionen. Das ist ein völlig innovativer Vorgang, den es bisher so nicht gegeben hat. Das Gremium war in gleicher Zahl von Frauen und Männern besetzt, hatte Repräsentanten der indigenen Völker und der LGBT-Bewegung. Es soll bisher weltweit kein anderes Beispiel dafür geben.

Darüber hinaus sind in der neuen Charta Magna Themen aufgeführt, die in nur wenigen Verfassungen anderer Länder verankert sind. So zum Beispiel der grundlegende Schutz von natürlichen Ressourcen, Geschlechterfragen, oder die Rechte indigener Völker.

Gleichgewicht der Macht

Der Entwurf schafft ein beispielloses Gleichgewicht der Macht zwischen Regierung, Parlament und Justiz, mit einer Parität von mindestens 50 Prozent Frauen. Die Zusammensetzung des Parlaments soll sich grundlegend verändern. Der Senat wird abgeschafft und durch eine Kammer der Regionen ersetzt.  Zudem soll nun eine aufeinanderfolgende Wiederwahl des Präsidenten möglich sein, was bisher verboten war.

Die Rechte der indigenen Völker Chiles

Einige der intensivsten Kontroversen drehten sich um die Rechte der indigenen Völker in Chile. Erstmals wird anerkannt, dass Chile ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat ist, plurinational (d.h. mehrere indigene Nationen koexistieren hier), interkulturell und mehrsprachig. Spanisch ist dann nicht mehr die einzige offizielle Sprache. (Übrigens ist Paraguay dafür ein zweisprachiges Modell mit Schulen und Universitäten, an denen in der indigenen Regionalsprache Guaraní gelehrt wird.)

Die neue Verfassung erkennt auch die Rechtssysteme indigener Völker an. Jedoch soll das chilenische Recht im Falle von Zuständigkeitskonflikten übergeordnet sein und die Mechanismen festlegen, die für deren Koordinierung, Zusammenarbeit und Lösung notwendig sind.

Legalisierung der Abtreibung

Für starke Kontroversen sorgte auch der Art. 16 über die sexuellen und reproduktiven Rechte. Dazu gehört unter anderem das Recht, frei, autonom und informiert über den eigenen Körper, über die Ausübung der Sexualität, die Fortpflanzung und die Verhütung zu entscheiden. Er legt die Grundlagen für die Legalisierung der Abtreibung, die in Chile vorerst nur aus drei Gründen erlaubt ist: Wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, wenn der Fötus nicht lebensfähig ist, oder wenn die Schwangerschaft die Folge einer Vergewaltigung ist.

Extreme Desinformationsstrategie der Medien

Die Ablehnungsfraktion kämpfte hingegen mit harten Bandagen. Eine extreme Desinformationsstrategie der Medien prägte immer stärker das öffentliche Klima in Chile. Sie bestand im Wesentlichen aus Lügen über den Inhalt der neuen Verfassung, um die Bevölkerung damit zu erschrecken.

Der schmutzige Informationskrieg von rechts

Der "schmutzige Kommunikationskrieg" der Rechten verbreitete eine lange Liste von Unwahrheiten über soziale Netzwerke, Interviews in traditionellen Medien, Webseiten und Broschüren.

Wenn die Genehmigung des Verfassungstextes gewinne, sagten sie, werde eine "marxistische Verfassung" regieren. Niemand in Chile werde wieder ein eigenes Haus besitzen können, das Land werde keine geschlossene Einheit mehr bilden sondern aus mehreren Nationen bestehen, die indigenen Völker würden mehr Rechte haben als die übrigen Bürger, das private Bildungs- und Gesundheitswesen werde verboten, Pensionen und Renten würden in der Staatskasse verschwinden (Man erinnere sich in diesem Zusammenhang an die Massenproteste gegen das privatisierte Rentensystem).

Auch der Name des Landes, die Flagge, die Nationalhymne und alle nationalen Symbole würden geändert werden, hieß es. Frauen könnten bis zum neunten Monat abtreiben, man werde keine Wasserflaschen mehr kaufen können, da das Wasser verfassungsrechtlich geschützt sei, Kirchen würden geschlossen, um die Religionsfreiheit zu verhindern, und nicht-indigene Chilenen müssten einen Reisepass haben, um Mapuche-Gebiete zu betreten. Zuletzt kam noch der Vorwurf, der Präsident werde den Ausnahmezustand gegen den indigenen "Terrorismus" im Süden des Landes nicht anwenden.

Nichts davon spiegelt sich in dem Verfassungsvorschlag wider, aber die Gegner gaben nie nach. Im Gegenteil, sie bestanden darauf, unter dem Motto "Lasst uns Chile retten" bis zur letzten Minute Angst zu verbreiten.

Angebliche Inszenierung eines Wahlbetrugs

Sie warnten auch davor, dass die Regierung Boric einen Wahlbetrug vorbereite, damit die "Zustimmungskräfte" gewinnen. Man würde unkontrolliert Zuwanderer – hauptsächlich aus Haiti und Venezuela – ins Land holen und ihnen Stimmrechte geben, damit sie für die neue Verfassung stimmten. Die Wählerlisten wolle man mithilfe der Daten von Verstorbenen aufblähen, um sie für die neue Verfassung einzusetzen, auch die Daten von Verschwundenen aus der Zeit der Diktatur seien darunter.

Diese angeblichen Bedrohungen der demokratischen Wahlen wurden vom staatlichen Wahldienst verneint, was jedoch wirkungslos blieb. Die Desinformation, die vorgaukelte, die neue Verfassung stelle eine Gefahr für das Land dar, geht bis heute weiter.

Die Geschichte der chilenischen Verfassungsreform

Der Weg zu einer neuen chilenischen Verfassung begann im Oktober 2019 mit den historischen Massenprotesten, die sich in ganz Chile ausbreiteten. Die soziale Verarmung, die millionenfache Ablehnung des privatisierten Rentensystems, die Proteste gegen das private Bildungssystem mit seinen Privilegien, und viele Themen mehr, bildeten den Hintergrund für die Demonstrationen.

Um den Konflikt zu kanalisieren, hatte die Regierung von Sebastián Piñera keine andere Wahl, als eine Volksabstimmung für eine neue Verfassung zu akzeptieren. Sie fand am 25. Oktober 2020 statt, mit  78 Prozent Unterstützung für eine neue Charta Magna. Am 4. Juli 2021 nahmen die gewählten Vertreter der Verfassungskonvention ihre Arbeit auf. Die erste Präsidentin des Verfassungsorgans war die indigene Intellektuelle Elisa Loncón, die später von María Elisa Quinteros abgelöst wurde, einer unabhängigen Gesundheitsspezialistin. Nach einjähriger Arbeit übergab der Konvent dem Präsidenten Gabriel Boric den Textentwurf. Damit begann die letzte Etappe, der Weg zum Referendum über den Gesetzestext. Die Abstimmung wird am 4. September stattfinden.

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