Lateinamerika

TIAR Nationalversammlung: Venezuelas Wiedereintritt und die Folgen

Die Nationalversammlung Venezuelas stimmte für den Wiedereintritt in den "Interamerikanischen Beistandsvertrag" – das oberste Gericht erklärte die Entscheidung für nichtig. Laut Vertragstext müssten die USA jedoch sofort alle Sanktionen beenden.
TIAR Nationalversammlung: Venezuelas Wiedereintritt und die FolgenQuelle: Reuters © Miraflores Palace

von Maria Müller

Am 23. Juli stimmte das von der Opposition dominierte venezolanische Parlament für den Wiedereintritt Venezuelas in den Interamerikanischen Beistandsvertrag (Abkürzung auf spanisch TIAR).

Drei Tage später erklärte der Oberste Gerichtshof den Beschlussakt für null und nichtig. Seit dem Sieg der Opposition bei den Parlamentswahlen 2015 verweigern die zwei politischen Lager des Landes sich gegenseitig die juristische und politische Legitimation. Um die "Selbstproklamation" zum Übergangspräsidenten des Juan Guaidó vor genau sechs Monaten zu feiern, vollführten die Parlamentarier die Abstimmung auf der Straße vor dem Gebäude. Nach der venezolanischen Verfassung muss ein Übergangspräsident innerhalb von drei Monaten zu Neuwahlen aufrufen. Das geschah bisher nicht.

Mexiko zog sich bereits 2002 aus dem TIAR zurück, wohingegen die Mitglieder des ALBA-Staatenbundes zwischen 2012 und 2014 auf die Mitgliedschaft verzichteten. Es handelte sich um Venezuela, Kuba, Ecuador, Bolivien und Nicaragua. 

Doch was hat es damit auf sich? Die USA formulierten den TIAR nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und versammelten die amerikanischen Staaten 1947 zur Unterzeichnung in Rio de Janeiro. Die UNO entstand 1945, die westlichen Staaten gründeten die NATO erst 1949. Der Vertrag wurde 1975 reformiert und von den Mitgliedsstaaten erneut ratifiziert. 

Krieg führen – doch ohne die Zustimmung des UNO-Sicherheitsrates

Seine Funktion besteht in erster Linie darin, für die USA Handlungsfreiheiten im Fall von Konflikten mit anderen Staaten zu schaffen, ohne vom Beschluss des UNO-Sicherheitsrates abhängig zu sein. Durch diesen Vertrag soll die historisch US-dominierte Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) mit annähernd ähnlichen politischen und völkerrechtlichen Kompetenzen wie die UNO und ihr Sicherheitsrat ausgestattet werden. Die Absicht ist allerdings nur indirekt in versteckten Formulierungen zu erkennen.

Diese zentrale Idee wird auch in der erneuerten Fassung von 1975 aufrechterhalten, sie ist letztlich der Kern des Vertrages. Oberflächlich betrachtet kommt er geradezu friedliebend daher. Er beruft sich wiederholt auf die Prinzipien der UNO-Charta, die von der OAS übernommen wurden, und betont besonders die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und den Vorrang der friedlichen Konfliktlösung. (!)

Vorweggenommen ist klarzustellen, dass der Vertrag die Mitgliedsstaaten nicht zu militärischen Aktionen zwingen kann. Das wird auch in seiner Reform von 1975 beibehalten. Andererseits müssen alle sonstigen, von der OAS beschlossenen Maßnahmen – wie Sanktionen gegen ein Land oder dessen völlige Isolierung von der Außenwelt – mitgetragen werden. Jedoch immer nur dann, wenn der betroffene Staat einen anderen auf dem amerikanischen Kontinent angegriffen hat – sei es militärisch oder mit sonstigen Aggressionen. (Venezuela hat niemanden angegriffen …) Wenn die Aggression auf einem "außer-kontinentalen Gebiet" stattfand, tritt der Vertrag ebenfalls in Kraft.

Pflicht zu Sanktionen – keine Pflicht zu Militärinterventionen

Im Artikel 8 geht es um die Maßnahmen, an denen sich die Mitgliedsstaaten beteiligen müssen:

Den Rücktritt der Missionsleiter (bei der OAS); der Bruch der diplomatischen Beziehungen; der Bruch der konsularischen Beziehungen; die teilweise oder vollständige Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen, der Eisenbahn-, See-, Luft-, Post-, Telegrafie-, Telefon-, Funktelefon- oder Funktelegrafiekommunikation und anderer Kommunikationsmittel sowie der Einsatz der Streitkräfte.

Artikel 20 stellt klar:

Die Entscheidungen, welche die in Artikel 8 genannten Maßnahmen einfordern, sind für alle Unterzeichnerstaaten dieses Vertrags, die ihn ratifiziert haben, verbindlich, mit der einzigen Ausnahme, dass kein Staat verpflichtet ist, ohne seine Zustimmung Waffengewalt anzuwenden.

In der reformierten Fassung von 1975 kann der OAS-Rat im Einzelfall entscheiden, welche Maßnahmen obligatorisch sind und welche nicht.

Der tiefe innere Widerspruch des Beistandspaktes

Der Vertrag ist zweideutig und weitreichend interpretierbar. Man versichert darin, dass er nicht die Rechte und Pflichten der Mitgliedsstaaten gegenüber der UNO einschränken würde. Solche Normen wie "das Recht auf Nicht-Intervention und das Recht jedes Staates, frei seine politische, wirtschaftliche und soziale Organisationsform zu wählen."

Doch diese Behauptung ist falsch, das Gegenteil ist der Fall. Der TIAR-Vertrag kann zu den Wirtschaftssanktionen verpflichten, die von der UNO-Charta verboten sind.

Wahrscheinlich sind hier die Motive zu finden, warum die venezolanische Opposition glaubt, mittels des TIAR die Sanktionen der USA und Europas mit solchen aus den lateinamerikanischen Nachbarstaaten erweitern zu können. Doch sie hat dabei vergessen, dass die UNO-Charta in den meisten Fällen in die nationalen Verfassungen integriert wurde. Sanktionen gegen einen anderen Staat zu verhängen wäre demnach in Lateinamerika verfassungswidrig.  

Außerdem sind Sanktionen laut TIAR gegen einen Staat nur dann zulässig, wenn dieser einen oder mehrere Mitgliedsstaaten angegriffen hat – nicht nur militärisch. Doch das trifft alles auf Venezuela nicht zu.

So heißt es im reformierten Text im Artikel 9.1:

Eine Aggression ist die Anwendung von Waffengewalt durch einen Staat gegen die Souveränität, territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines anderen Staates oder auf eine andere Weise, die mit der Charta der Vereinten Nationen oder der Charta der Organisation Amerikanischer Staaten oder mit diesem Vertrag unvereinbar ist.

Die Vertragsmitglieder, allen voran die USA, haben sich nie an den Vertrag gehalten

Abgesehen davon hat man den TIAR nicht nur nie angewendet, sondern im Gegenteil mit Füßen getreten. Denn er enthält Formulierungen, die im krassen Gegensatz zur lateinamerikanischen Geschichte und heutigen Realität stehen.

So heißt es im Artikel 1: "Die hohen Vertragspartner verurteilen den Krieg in aller Form und verpflichten sich, in ihren internationalen Beziehungen weder Drohungen noch Gewalt – in welcher Form auch immer – anzuwenden, die mit der UNO-Charta oder dem vorliegenden Vertrag unvereinbar sind."

Man vergleiche die schönen Worte mit dem ständigen Androhen einer Militärintervention in Venezuela, mit den organisierten Attacken auf die Elektrizitätsversorgung des Landes und mit den tödlichen Wirtschafts-, Lebensmittel- und Medikamentensanktionen seitens der USA.

Die USA haben den TIAR-Vertrag mit fünf Militärinterventionen in Lateinamerika, mit Putschen und Diktaturen gebrochen

Die USA müssten wegen vielfachen Vertragsbruch vor der OAS oder vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt werden.

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Sie haben den seit 1947 geltenden Vertrag durch fünf militärische Invasionen, mehrere  Staatsstreiche, die Bildung paramilitärischer Armeen, Drohungen gegen Regierungen und Kollaboration mit Diktaturen in Lateinamerika vielfach gebrochen. Die anderen Vertragsstaaten haben ebenfalls gegen die Bestimmungen verstoßen, da sie nie Maßnahmen zur Verteidigung von Regierungen oder Ländern ergriffen haben, die von den Vereinigten Staaten attackiert wurden.

Der TIAR verpflichtet theoretisch alle Mitglieder, sofort Maßnahmen gegen die USA zu ergreifen, damit sie die Sanktionen gegen Venezuela und die Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes beenden. Zumal Venezuela die USA nie angegriffen hat. Das gleiche gilt für die 60-jährige Blockade gegen Kuba. An den Beispielen wird der diametrale innere Widerspruch des TIAR deutlich. Daran hat Guaidó nicht gedacht.

Ein Recht auf kollektive Selbstverteidigung: doch ohne den UN-Sicherheitsrat

Im Artikel 2 des Vertrages sind die Mitglieder dazu verpflichtet, Kontroversen zuerst im Rahmen der OAS auszutragen, bevor sie vor die UNO-Vollversammlung und den Sicherheitsrat gebracht werden. Hier versucht man, einen völkerrechtlich legitimierten Rahmen außerhalb der UNO zu schaffen.

Im Artikel 3 heißt es dann:

Punkt 1.: "Die Hohen Vertragsparteien kommen darin überein, dass ein bewaffneter Angriff eines Staates auf einen amerikanischen Staat als Angriff auf alle amerikanischen Staaten anzusehen ist, und folglich verpflichtet sich jede der Vertragsparteien, zu seiner Bewältigung in Ausübung des in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen anerkannten Rechts auf legitime individuelle oder kollektive Verteidigung zu handeln."

Kommentar: der Vertrag TIAR kann die Mitgliedsstaaten zwar nicht verpflichten, sich gegen ihren Willen an einer militärischen Aktion zu beteiligen. Doch er erlaubt es, und erleichtert diesen Schritt, indem er die völkerrechtliche Legitimität – auch ohne die Zustimmung des Sicherheitsrates – garantiert. So können sich die Mitgliedsstaaten einer militärischen Beteiligung nicht mehr mit dem Argument entziehen, sie verletze das Völkerrecht.

Das vermeintliche Recht auf "sofortiges" Handeln

Im Punkt 2 des Artikel 3 wird sogar das für solche Entscheidungen zuständige Organ der OAS beiseite gelassen. Man rechtfertigt den Schritt mit der Notwendigkeit des "sofortigen" Handelns als Reaktion auf einen Angriff auf dem amerikanischen Kontinent oder "außerhalb des Kontinents".Natürlich muss der Rat der OAS sich sofort versammeln … aber bis es soweit ist … kann jedes Mitglied die "solidarischen" Maßnahmen ergreifen, die es individuell für richtig hält, ohne an einen kollektiven Beschluss der OAS gebunden zu sein. Und noch weniger an einen der nachgeschalteten UNO. Das Argument ist die Zeitspanne, die Dauer, die man zur Beschlussfassung in den Institutionen braucht. Es gehe um "das Recht, in der ersten Stunde der Aggression zu handeln."

Das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UNO-Charta

Der Vertrag beinhaltet eine üble Fußangel:

Wiederholt wird im Text auf Artikel 51 der UNO-Charta hingewiesen, der das Recht auf eine individuelle oder kollektive Selbstverteidigung der Staaten verbürgt. Doch im internationalen Recht ist Artikel 51 ausdrücklich an einen Beschluss des Sicherheitsrates gebunden.

Wenn die OAS Sanktionen oder militärische Aktionen beschließt – oder einzelne Mitglieder des TIAR unkontrolliert handeln –, können sie sich ebenfalls auf das Selbstverteidigungsrecht berufen. Jedoch ohne den UNO-Sicherheitsrat vorher zu konsultieren. Man macht sich von der UNO unabhängig, mit dem gleichzeitigen Anspruch, unter ihrem völkerrechtlichen Schirm handeln zu können.

Im Artikel 3 Punkt 4 wird die Sache dann eindeutig:

Die in diesem Artikel genannten Selbstverteidigungsmaßnahmen können angewendet werden, solange der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten.

Kommentar: Bombardierungen im Vorfeld eines UNO- Beschlusses sind jedoch nicht mehr rückgängig zu machen.

Die "außer-kontinentale" Reichweite des TIAR

Besonders problematisch ist, dass sich der TIAR nicht nur auf Aggressionen bezieht, die auf dem Territorium des amerikanischen Kontinents gegen ein Mitglied stattfinden, sondern auch auf solche, die sich auf "außer-kontinentalem Gebiet" (Artikel 6) oder "außerhalb der (amerikanischen) Gebiete" ereignen (Artikel 4). 

TIAR und die US-Besetzung Afghanistans

Andererseits wurde der TIAR-Vertrag bisher nur ein einziges Mal angewendet – im Jahr 2001, nach den Angriffen auf die Gebäude des World Trade Center in New York. US-Präsident Busch benötigte einen internationalen Rückhalt für seinen Racheschlag gegen Afghanistan, den er vom UN-Sicherheitsrat nicht erhielt. In kürzester Zeit unterstützten ihn 23 Mitgliedsstaaten des TIAR mit einer öffentlich groß aufgemachten Erklärung – sein militärischer Angriff am UN-Sicherheitsrat vorbei erhielt so den Anschein von internationaler Legitimation. 

Doppelmitgliedschaft der USA und Kanadas im TIAR und in der NATO: das Einfallstor für geostrategische Konflikte

Zuletzt sei die Frage gestellt, ob die TIAR-Mitgliedschaft der USA und Kanada, die gleichzeitig der NATO angehören, nicht ein Einfallstor für NATO-Konflikte in Lateinamerika eröffnen könnten. Ein extra-kontinentaler Angriff – in Syrien, Afghanistan, im Irak oder wo auch immer, z. B. auf dortige Militäreinrichtungen dieser Großmächte, verpflichten laut Vertragstext des TIAR auch lateinamerikanische Staaten zum Reagieren und Handeln, wenn auch nicht unbedingt mit militärischen Mitteln.

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