Asien

Was ist an der Grenze zwischen Tadschikistan und Kirgisistan passiert, und wohin kann das führen?

Ein ausgewachsener Krieg zwischen zwei ehemaligen Sowjetrepubliken könnte die Stabilität in Zentralasien nachhaltig gefährden. Fachleute in der Region sind sich jedoch zweifelsfrei sicher: Der Konflikt wird weitergehen, die Intensität der Auseinandersetzungen wird zunehmen.
Was ist an der Grenze zwischen Tadschikistan und Kirgisistan passiert, und wohin kann das führen?Quelle: Sputnik

Eine Analyse von Georgi Berezowskij 

Während die Staatschefs von mehr als 20 großen asiatischen Ländern – darunter Russland, China, die Türkei und Indien – in der nur wenige hundert Kilometer entfernten antiken Stadt Samarkand Gespräche führten, brachen Feindseligkeiten an der Grenze zwischen Tadschikistan und Kirgisistan aus. Diese wurden unter Einsatz schwerer Waffen ausgetragen und forderten Dutzende von Menschenleben, während sich die Präsidenten beider Staaten ebenfalls bei dem Gipfeltreffen in Samarkand befanden.

Alles begann, nachdem der kirgisische Grenzschutz festgestellt hatte, dass die tadschikischen Kollegen an einem Teil der Staatsgrenze Kampfstellungen bezogen hatten und damit getroffene Vereinbarungen verletzten. Als Reaktion auf die Aufforderung, das Territorium zu verlassen, wurde das Feuer eröffnet. Mehrere Tage lang wurde mit schweren Waffen gekämpft. Die Zahl der Todesopfer war am Ende wesentlich höher als bei früheren Vorfällen. Etwa 59 Tote wurden in Kirgisistan und 41 Tote auf der tadschikischen Seite gemeldet. Höchstwahrscheinlich sind dies jedoch nicht die endgültigen Zahlen.

Daraufhin unterzeichneten die Chefs der Geheimdienste beider Länder zwar ein Waffenstillstandsprotokoll. Die Gründe dafür, dass sich beide Parteien gezwungen sahen, zu den Waffen zu greifen, sind aber nicht aus der Welt geschafft. Was eine Wiederholung des Konflikts fast unvermeidlich macht.

Der Gordische Knoten des Ostens

Zusammenstöße an der Grenze zwischen Tadschikistan und Kirgisistan sind aufgrund ungelöster territorialer Konflikte seit dem Zusammenbruch der UdSSR keine Seltenheit. Der fruchtbarste Teil der Region, das Ferghanatal, erstreckt sich nicht nur über Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan, sondern ist auch in zahlreiche Enklaven zerrissen, von denen nur acht als großflächig gelten. Der neuste Konflikt brach im Gebiet der tadschikischen Enklave Woruch aus, die von kirgisischem Territorium umgeben ist.

An der tadschikisch-kirgisischen Grenze kommt es am häufigsten zu Spannungen. Die Epizentren der Zusammenstöße bilden sich meist um Wasserquellen, fruchtbares Land oder Verkehrsinfrastruktur. Sie ereignen sich regelmäßig alle paar Monate und entwickeln sich zumeist nach einem ähnlichen Muster: Einwohner, empört über die Platzierung dieser oder jener Infrastruktureinrichtung, bewerfen sich gegenseitig mit Steinen. Bald darauf fallen Schüsse und Brände werden gelegt. Anschließend eilen Beamte aus den Hauptstädten herbei und führen Verhandlungen zur Beilegung des Konflikts.

Manchmal, wenn auch seltener, wird das Militär beider Seiten in den Konflikt mit hineingezogen. Auch der bei dem jüngsten Vorfall gemeldete Einsatz von Mörsern ist kein beispielloses Ereignis. Vor 18 Monaten, im Frühjahr 2021, war die Situation ähnlich. Allerdings werden die Zusammenstöße von Mal zu Mal gewalttätiger, und die Zahl der Opfer steigt.

"Die aktuelle Situation unterscheidet sich von den bisherigen in erster Linie in ihrem Ausmaß", erklärte Andrei Kasanzew, ein Spezialist für die Region und Professor an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der Moskauer HSE, gegenüber RT. Ihm zufolge sind die Ereignisse an der Grenze zwischen Tadschikistan und Kirgisistan Teil eines seit vielen Jahren bestehenden Problems. Er erklärte:

"Die Fälle von schweren Schießereien an der Grenze, unter Einsatz von Waffen, werden immer häufiger. Dieser Konflikt bricht buchstäblich alle sechs Monate mit neuer Kraft aus, aber dies ist keine Konfrontation zwischen Kirgisistan und Tadschikistan. Es sind regionale Konflikte, die aufflammen – entweder um lokale Ressourcen oder zwischen Gruppen, die grenzüberschreitenden Drogenhandel betreiben. Normalerweise fängt alles damit an, dass das Wasser nicht geteilt wird."

Zwingende Umstände

Die demografische Situation im Ferghanatal gießt zusätzlich Öl ins Feuer, denn verglichen mit dem Rest des postsowjetischen Raumes scheint es hier eine Art Anomalie zu geben. Während die meisten Gebiete von Entvölkerung betroffen sind, ist im Ferghanatal genau das Gegenteil der Fall: Auf einer Fläche von 22.000 Quadratkilometern leben mehr als 15 Millionen Menschen.

Die Bevölkerungsdichte außerhalb der Städte ist mit etwa 650 Einwohnern pro Quadratkilometer eine der höchsten der Welt. Das ist vergleichbar mit den dicht besiedelten Gebieten Chinas, Indiens oder Bangladeschs. Etwa ein Drittel der Bevölkerung Usbekistans und Tadschikistans und die Hälfte der Gesamtbevölkerung von Kirgisistan lebt im Ferghanatal – und in Zukunft werden es noch mehr werden, weil die Länder Zentralasiens demographisch betrachtet "junge" Staaten sind. 

Auch Andrei Grosin, Leiter der Abteilung Zentralasien und Kasachstan des GUS-Instituts, weist auf das Ungleichgewicht in der Demographie der beiden Länder hin:

"In den Grenzregionen Tadschikistans gibt es ein explosionsartiges Bevölkerungswachstum – im Gegensatz zu Kirgisistan, wo die Situation in Richtung Entvölkerung zu kippen beginnt. Die Kirgisen befürchten, dass die Tadschiken ihnen gegenüber irgendwann in der Mehrzahl sein werden. In den Grenzgebieten beträgt das Verhältnis jetzt etwa sechs zu eins. Es gibt somit viel weniger Kirgisen als Tadschiken.

Die Kirgisen hegen ernsthafte Befürchtungen, dass die interne Migration, zusätzlich zu denjenigen, die Kirgisistan verlassen, schließlich eine Situation schaffen wird, in der es auf der kirgisischen Seite ein Vakuum und auf der tadschikischen Seite eine absolut dominante Zunahme der Bevölkerungszahl geben wird, wo die Menschen unter Landmangel leiden und die Wasserressourcen knapp werden."

Die Situation der Überbevölkerung wird durch Armut und Knappheit der Ressourcen verstärkt. Fast die gesamte Bevölkerung des Tals ist auf Viehzucht und Landwirtschaft angewiesen, sodass jedes Stück Land Gold wert ist. Umso schwerer wiegt, dass nicht nur ehrliche Bauern und Hirten, sondern auch diverse kriminelle Clans dieses Land beanspruchen. Durch das Tal führen Wege des Drogen- und Waffenschmuggels. Und es gibt Hinweise darauf, dass ein großer Teil dieses Geschäfts von islamistischen Mitgliedern terroristischer Gruppen kontrolliert wird.

Feindbild

Solche Umstände schaffen eine Situation, in der die Zentralregierungen absolut keine Kontrolle darüber haben, was vor Ort passiert. Infolgedessen sind die Auseinandersetzungen an den Grenzen nicht zwischenstaatlicher Natur, sondern lokal: Reibungen finden zwischen einfachen Menschen statt und nicht zwischen den Regierungen der beiden Länder.

Der Mangel an Kontrolle, die Zunahme von Kriminalität und Armut und der Kampf um lebenswichtige Ressourcen wie Wasser haben in der Vergangenheit bereits zu Massakern geführt – 1989 in der Region Ferghana in Usbekistan, und 2010 in der Region Osch in Kirgisistan. Professor Kasanzew weist darauf hin, dass der Konflikt immer wieder neu aufflammen wird, da sich die Widersprüche zwischen den Bewohnern der Grenzbezirke häufen und keine Entscheidungen zu diesen Themen getroffen werden. Der Experte erklärte:

"Vor noch nicht allzu langer Zeit haben sich die Völker ziemlich brüderlich wahrgenommen – es existiert keine historische Feindschaft wie beispielsweise zwischen Aserbaidschanern und Armeniern. Aber je mehr die Spannungen zunehmen, desto mehr wird damit begonnen, Differenzen zu konstruieren.

Zum Beispiel jene, dass die Tadschiken ein sesshaftes Volk und die Kirgisen Nomaden sind. Jede Seite beginnt nun zu behaupten, dass die eigene Kultur die bessere sei, dass sie älter und höher entwickelt und die Nachbarn Barbaren seien. So wie die Rhetorik verbittert, wächst auch die Intensität bei den einzelnen Konflikten. Und die Zahl der Opfer steigt, weil es dann Leute gibt, die sich für Leute aus ihren eigenen Reihen rächen wollen."

Grosin seinerseits merkte an, dass sich die Verhärtung der Rhetorik negativ auf die Aussicht auf einen Kompromiss auswirke. Er meinte:

"Die Behörden beider Republiken sind in den Beziehungen in eine gewisse Sackgasse geraten und jedes Zugeständnis, falls es jemals eines geben wird, wird jetzt sowohl von der tadschikischen als auch von der kirgisischen Gesellschaft äußerst negativ wahrgenommen. Dies erschwert die Möglichkeit eines Verhandlungsprozesses überhaupt."

Ihm zufolge können die Behörden der beiden Länder diesen Konflikt zwar nicht beeinflussen, nutzen ihn aber geschickt für ihre eigenen Zwecke aus. Mit nationalistischer Rhetorik und der Konstruktion des Bildes eines äußeren Feindes, lenken die Führungen in Tadschikistan und in Kirgisistan die Öffentlichkeit von zahlreichen inneren Problemen ab.

"Ich glaube, dass beide Staaten kein ernsthaftes Interesse daran haben, tatsächlich nach einem Ausweg aus dieser Sackgasse zu suchen, in der die Länder seit mindestens einem Vierteljahrhundert stecken – beginnend mit dem Vertrag zur Grenzziehung von 1997. Ein Vierteljahrhundert ist seitdem vergangen, aber in der Frage der Grenzziehungen und Bestimmung der Demarkationslinien wurden aus verschiedenen objektiven und subjektiven Gründen keine ernsthaften Fortschritte erzielt", erklärte Grosin ferner.

Wie es dazu kam

Die Bolschewiki haben in der Region eine geopolitische Zeitbombe platziert. Aus den zahlreichen Stämmen Zentralasiens wählte die Sowjetregierung fünf Hauptstämme aus: Kasachen, Kirgisen, Usbeken, Turkmenen und Tadschiken. Die Grenzen des Territoriums von Turkestan, das fünf Regionen mit den Territorien des Khanats Chiwa und des Emirats von Buchara verband, wurden in den 1920er Jahren zwischen den neu gegründeten Republiken aufgeteilt.

Das nationale Prinzip wurde jedoch nicht zum Schlüssel für die Abgrenzung des Territoriums. Die Sowjetregierung zog die Grenzen aufgrund von Überlegungen zur wirtschaftlichen Machbarkeit. Die nomadische Lebensweise lokaler Stämme erschwerte die administrative Aufteilung: Wenn beispielsweise zu einer Jahreszeit in einem Gebiet die tadschikische Bevölkerung vorherrschte, dann konnten in diesem Gebiet zu einer anderen Zeit die Kirgisen das dominierende Volk sein. Letztlich ließen sich die Bolschewiki vom Prinzip der Sesshaftigkeit der Völker leiten – was sich später als Irrtum herausstellte.

In den Jahren des Russischen Reiches war dieser Zwischengebirgstrog eine separate Region. Davor war es das Zentrum und die Perle des Khanats von Kokand. Die Bolschewiki beschlossen, das fruchtbare Land gleichzeitig zwischen drei Unionsrepubliken aufzuteilen – Kirgisistan, Usbekistan und Tadschikistan.

Infolgedessen war das gesamte Tal mit zahlreichen Enklaven übersät, von denen nur acht als großflächig gelten. Drei davon gehören zu Tadschikistan, vier zu Usbekistan und eine zu Kirgisistan. Kirgisistan "kompensiert" die geringe Zahl an Enklaven durch die große Zahl an Exklaven auf seinem Territorium. Mit Ausnahme von zwei solchen Problemgebieten – das kirgisische Barak und das tadschikische Sarwak in Usbekistan – befinden sich die verbleibenden sechs "territorialen Anhängsel" des Tals auf dem Territorium von Kirgisistan.

All dies war im Rahmen der Sowjetunion unwichtig. Als sich jedoch drei unabhängige souveräne Staaten Seite an Seite auf dem Territorium des Ferghanatals befanden und ihre Grenzen zeitweise geschlossen wurden, hatte die lokale Bevölkerung Schwierigkeiten bei der Versorgung mit Wasser und humanitären Hilfsgütern. Wobei die Bewohner von ihren Weiden, von medizinischer Versorgung und manchmal auch von ihren Familien isoliert wurden.

Derzeit haben Tadschikistan und Kirgisistan nur 520 Kilometer der 950 Kilometer ihrer gemeinsamen Grenze gegenseitig anerkannt. Die restlichen Abschnitte gelten seit dem Zusammenbruch der UdSSR als umstritten. Sie verlaufen entlang von Dörfern und Straßen, und manchmal kann die Grenze gar durch zwei benachbarte Häuser verlaufen.

Wohin führt dieser Konflikt?

Fachleute in der Region sind sich zweifelsfrei sicher: Der Konflikt wird weitergehen, die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen wird zunehmen. In diesem Zusammenhang warnte Professor Kasanzew:

"Natürlich besteht die Gefahr, dass die Eskalation irgendwann die zwischenstaatliche Ebene erreicht – einige werden Rachegelüste haben, es wird eine Mobilmachung angekündigt und gegen einen Nachbarn in den Krieg gezogen. Bisher ist dieser Fall Gott sei Dank nicht eingetreten. Die zentralen Behörden ersticken solche Entwicklungen im Keime, wenn Konflikte aufflammen. Aber es ist möglich, dass irgendwann eine der Seiten sich nicht mehr zurückhält – was, wenn das Volk Rache fordert? In diesem Fall könnte ein handfester Krieg ausbrechen."

Grosin wies zudem darauf hin, dass auch externe Akteure, also die Nachbarn beider Staaten, einen solchen Trend nicht beeinflussen können. Er sagte:

"Russland hat wiederholt seine Hilfe als Vermittler angeboten, die Parteien lehnten ein solches Angebot jedoch höflich ab. Gleiches gilt für China, das viele Interessen hat und die Stabilität in der Region wahren will. Aber wie wir sehen können, hatte selbst der Gipfel in Samarkand, auf dem sowohl Präsident Xi Jinping als auch der russische Präsident Wladimir Putin versuchten, den Staatschefs von Tadschikistan und Kirgisistan die Idee einer Beendigung des Konflikts zu vermitteln, keine Wirkung. Wie wir bisher sehen können, bleibt die Trägheit bestehen, der Gesamtkonflikt bewegt sich nirgendwo hin. Das heißt, die mahnenden Worte alter Kollegen reichen hier nicht aus. Weder der Westen noch der Osten können diese Konfrontation beeinflussen."

Einziger Trostfaktor in dieser Situation sei laut Grosin das extrem geringe militärische Potenzial von Kirgisistan und Tadschikistan:

"Diese Länder haben nicht die Kapazitäten für einen lang andauernden bewaffneten Konflikt, selbst im Vergleich zu dem, was wir im Südkaukasus sehen. Dort sind die militärischen und wirtschaftlichen Potenziale, sowohl in Armenien als auch in Aserbaidschan, wesentlich größer. Kurz gesagt, es gibt nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste."

Professor Kasanzew hingegen teilt den Optimismus seines Kollegen nicht. Er warnt:

"Tatsache ist, dass in Afghanistan, das an Kirgisistan und Tadschikistan grenzt, bereits ein Krieg zwischen den Taliban und verschiedenen anderen Gruppierungen wie dem IS stattfindet. Und wenn diese beiden Länder einen Krieg beginnen, wird ein afghanisches schwarzes Loch entstehen, das sich ausdehnt und die benachbarten Gebiete erfasst. Und dann wird es nicht nur ein Afghanistan geben, sondern drei."

Übersetzt aus dem Englischen.

Georgi Berezowski ist ein Journalist aus Moskau.

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