Nahost

Türkei wegen Schwedens NATO-Beitritt in der Zwickmühle: Instabilität oder Wirtschaftsprobleme

Präsident Erdoğan reichte vor einer Woche Schwedens NATO-Beitrittsprotokoll zur Ratifikation im Parlament ein – genauso lange bleibt diesem nun zum Fällen der schweren Entscheidung. Aus türkischer Sicht spricht viel dafür, Schwedens Beitritt zuzulassen – und ebenso viel dagegen.
Türkei wegen Schwedens NATO-Beitritt in der Zwickmühle: Instabilität oder WirtschaftsproblemeQuelle: www.globallookpress.com © Mustafa Kaya/Xinhua

Von Wladimir Awatkow

Am 23. Oktober 2023 hat der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, nach langem Widerstand dem türkischen Parlament nun doch das Protokoll über Schwedens NATO-Beitritt zur Verabschiedung vorgelegt. Als letzter von allen Staatschefs der Bündnismitglieder.

Erstmals nach langer Zeit kommt damit Bewegung in diese Sache: Die Mitgliedschaftsanträge Schwedens und Finnlands wurden im Mai oder Juli 2022 eingereicht, je nachdem, ab wann man zählt – und der schwedische hängt somit seit 15 Monaten in der Luft. Stockholm wurde von Erdoğan ein halbes Jahr länger hingehalten als Helsinki. Während dieser ganzen Zeit hat er an die einhundertmal Schwedens Bitten, Anfragen und Forderungen abgeschmettert – und an die zehnmal den Betroffenen im Westen versprochen, dass bald alles geschehe.

Und obwohl der türkische Staatschef immer wieder nicht nur mit unschönen Worten überschüttet wurde, sondern auch mit Nötigungsversuchen – mit Drohungen à la "entweder die Türkei gibt Schweden grünes Licht oder sie fliegt aus der Allianz", blieb das Ergebnis unverändert:

"Die Türkei ist immer noch im Bündnis, Schweden ist immer noch im Wartesaal – und die anderen Bündnispartner finden sich nach wie vor damit ab. Unglaublich, aber wahr."

Erdoğans Prinzipientreue kennt nur eine Ausnahme: das große Abstauben. Und um den Ratifizierungsprozess des schwedischen Beitrittsprotokolls einzuleiten, müsste er schon mehr bekommen als F-16-Kampfflugzeuge von den USA – obwohl Washington hier ebenso geschickt verhandelt wie Ankara.

Gründe für die Entscheidung des türkischen Staatschefs kann es angesichts der jüngsten Ereignisse mehrere geben.

Erstens ein augenscheinliches Vorankommen des Beitrittsverfahrens der Türkei selbst, nämlich zur Europäischen Union. So gab es Verlautbarungen, EU-Spitzen seien dabei, den Projektplan für den türkischen Beitritt zur Wirtschaftsgemeinschaft zu entwerfen. Eine Diskussion diesbezüglich wurde für den 8. November 2023 anberaumt. Diese Sache kommt also ebenfalls langsam in Fahrt – und eins sollte klar sein: Einfach nur für leckeren Döner ist die EU bisher nicht bereit gewesen, Ankara aufzunehmen.

Zweitens wäre da das große Schachspiel um den arabisch-israelischen Konflikt. Ankaras gerade erst normalisierte Beziehungen zu Tel Aviv haben die Zerreißprobe nicht bestanden, und als deren Abschluss haben die Seiten noch "Nettigkeiten" ausgetauscht: Die offizielle Türkei erklärte, dass Israel dabei ist, einen Genozid zu verüben – und Israel rief alle seine Diplomaten aus der Türkei zurück, einschließlich des Botschafters. Möglich, dass Ankara dies jetzt gewissermaßen am anderen Ende auszugleichen sucht.

Der dritte Punkt auf der Liste ist die Wirtschaft, doch dieser ist mindestens genauso wichtig wie die vorigen. Die Türkei hat Investitionen von außen bitter nötig – ebenso wie erweiterte Handelsbeziehungen mit Europa. Auf seinen Nahostverbindungen aufbauend scheint das Land weder Handelsbeziehungen mit Europa zu entwickeln noch Investoren anlocken zu können. Und für die anvisierte Rolle als Gasknotenpunkt benötigt die Türkei ohnehin den Westen als einen Hauptabnehmer, sonst macht sie mit der Unternehmung Gashub ein Minusgeschäft.

Auch war man seinerseits bei der NATO so langsam mit der Geduld am Ende: Geredet wurde über kollektive Signale von nicht näher präzisierter Art und Format, die Ankara erhalten sollte – zum Beispiel für einen Verstoß gegen die NATO-Charta. Und jetzt, da alle möglichen Fristen schon überschritten waren, muss der Westen das türkische Parlament gewissermaßen aus dem Hinterhalt im Sturm einnehmen – damit dieses nicht vorher in Ferien geht und sich die Angelegenheit um ein weiteres Jahr verlängert. Das Programm der Allianz für das Jahr 2025 steht bereits auf der Kippe. Allerdings ist zu beachten:

"Der Beschluss des Parlaments kann auf jede erdenkliche Weise ausfallen, und dass es Schwedens Beitrittsprotokoll absegnet, ist überhaupt nicht garantiert. Während die öffentliche Meinung in der Türkei hierzu eindeutig und für alle ersichtlich ist: Schweden sollte man nicht in die Allianz lassen."

Und selbst falls das Parlament zustimmt und das Protokoll verabschiedet, so ist das Einverständnis des Volkes damit ebenso wenig garantiert. Antitürkische Demonstrationen und zahlreiche legale Koran-Verbrennungen sind nicht mal eben aus dem Gedächtnis des muslimischen Teils der Weltgemeinschaft zu streichen.

Ob der Beschluss des Parlaments in Ankara also für oder wider Schwedens NATO-Beitritt fällt – beides kann die Türkei teuer zu stehen kommen.

Übersetzt aus dem Russischen

Wladimir Awatkow ist ein russischer Politikwissenschaftler, Turkologe, Spezialist für multinationale und bilaterale Beziehungen sowie Politiker. Leiter der Abteilung für postsowjetische und Nahost-Orientalistik und Mitglied des Gelehrtenrates am Institut für wissenschaftliche Information zu Gesellschaftswissenschaften bei der Russischen Akademie der Wissenschaften. Seine private Kolumne auf Telegram finden Sie hier.

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