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Könnte die NATO in die Ukraine einmarschieren?

Der ehemalige Generalsekretär der NATO Anders Fogh Rasmussen hat vermutet, dass einige europäische NATO-Mitglieder ihre Truppen in die Ukraine schicken könnten. Welche Staaten wären dazu bereit, wie real ist die Gefahr, und was bedeutet dies für Russland?
Könnte die NATO in die Ukraine einmarschieren?Quelle: Gettyimages.ru © NurPhoto

Von Renat Abdullin

Eine alarmierende Warnung

Anders Fogh Rasmussen, der von 2009 bis 2014 den Posten des NATO-Generalsekretärs ausüben durfte, war später ein inoffizieller Berater des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko. Unter Selenskij leitete er offiziell eine Beratungsgruppe. Darüber hinaus ist er als Gründer der Stiftung "Allianz der Demokratien" bekannt, die "demokratische Werte" auf der ganzen Welt fördert. Vor Kurzem beendete der Ex-Generalsekretär eine Tour, die Washington und einige europäische Hauptstädte umfasste – er wollte herausfinden, wie dort die Vorbereitungen zum Gipfeltreffen der Allianz im Juli laufen.

Auf dem kommenden Gipfel müsse die Ukraine Sicherheitsgarantien erhalten und ihre Mitgliedschaft in der NATO sichergestellt werden, ist sich Rasmussen sicher. Sonst sei eine Eskalation des Konflikts unvermeidlich.

Die ständige Vertreterin der USA in der Allianz Julianne Smith erklärte ihrerseits: "Wir erwägen mehrere Varianten des Fortschritts der Ukraine in den Beziehungen zur NATO."

Rasmussen ist der Ansicht, dass einige Allianzmitglieder ihre Truppen auf ukrainisches Territorium "zur unmittelbaren Unterstützung der Streitkräfte der Ukraine" entsenden könnten.

Wer hilft Kiew?

"Ich würde nicht ausschließen, dass Polen seine Aktivität in diesem Kontext verstärkt und dass darauf die baltischen Länder mit einer möglichen Option eines Truppeneinmarschs folgen werden. Ich denke, dass die Polen ernsthaft darüber nachdenken, eine solche Koalition zu versammeln, wenn die Ukraine in Vilnius nichts bekommt", vermutete Rasmussen.

Kiew könnte selbst die mit der Ukraine sympathisierenden Staaten um unmittelbare militärische Hilfe bitten, und das wäre absolut legitim, fügte er hinzu.

In der Ukraine glaubt man bisher nicht, dass eine solche Bitte gewährt wird. "Bis zum Ende des bewaffneten Konflikts werden ausländische Staaten keine Truppen einführen", kommentierte der ukrainische Außenminister Dmitri Kuleba Rasmussens Äußerung in einer Fernsehsendung.

Sicherheitsgarantien hatte Kiew noch im letzten Jahr von den USA erhalten. Es scheint, dass andere NATO-Mitglieder bereit sind, den gleichen Weg zu beschreiten. In einem Interview am Rande des G7-Gipfels im Mai erklärte sich Bundeskanzler Olaf Scholz bereit, die Ukraine mit modernen Waffen auch nach einem Ende der Kampfhandlungen zu versorgen. Frankreichs Außenministerium erließ eine offizielle Pressemitteilung über die Garantien.

Nach Rasmussens Ansicht ist es wichtig, dass alle Zusicherungen verschriftlicht werden und Kiew vor dem NATO-Gipfel überreicht werden. Allerdings sei es nicht genug, warnte er. Die Zukunft der Ukraine müsse noch besprochen werden.

"Ich sprach mit einigen osteuropäischen Staatschefs. Sie wollen einen klaren Fahrplan für den Beitritt der Ukraine zur NATO", bemerkte er.

Selbst wenn es in Vilnius nicht gelingen sollte, Kiew ein offizielles Angebot zu machen, solle dies zumindest für das kommende Jahr versprochen werden, wenn der Gipfel in Washington stattfindet. Der Ex-Generalsekretär führte aus, dass Kiew eine vereinfachte Prozedur wie Schweden und Finnland benötige. Diese beiden Länder wurden von Zwischenetappen wie etwa der Ausarbeitung eines "individuellen Plans" befreit. "Alles Geringere würde die Ukrainer enttäuschen", betonte der dänische Politiker.

Direkte Konfrontation

Die von der Nachrichtenagentur RIA Nowosti befragten Experten kamen übereinstimmend zum Schluss, dass die Äußerungen des Ex-Generalsekretärs der NATO über einen möglichen Einmarsch europäischer Truppen in die Ukraine ein alarmierendes Signal für Russland seien.

"Die vom Rasmussen aufgezeigte Perspektive bedeutet einen direkten Konflikt mit der NATO. Er versteht sehr gut, welche Reaktion seine Worte hervorrufen werden. Das ist eine weitere Provokation mit dem Ziel, das Territorium zu sondieren. Wir sahen, wie kleine Schritte immer ernster wurden: Erst wurden Funkgeräte und kugelsichere Westen, dann Panzer und Flugzeuge geliefert", erklärte der Experte des Büros für militärpolitische Analyse Pawel Kalmykow.

Der leitende wissenschaftliche Mitarbeiter des Zentrums für europäische Studien des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften Wladimir Olentschenko verwies auch auf andere Umstände:

"Offensichtlich gibt Rasmussen die Sichtweise der USA wieder. Washington ist an einer Annäherung zwischen der Ukraine und der NATO und folglich an der Gewährung irgendwelcher Garantien während der Kampfhandlungen am meisten interessiert. Dies ist die Strategie der USA. Sie versuchen, die westlichen Verbündeten zu konsolidieren."

Die Logik sei einfach: Wenn die Europäer keinen vollwertigen Konflikt mit Russland wollen, sei es besser, Kiew jetzt schon zu helfen.

Was Polen und die baltischen Staaten angeht, seien sie Instrumente des US-amerikanischen Einflusses, erklärte Olentschenko. Und wenn die Rede von einem Einmarsch in die Ukraine ist, werden sie bei Bedarf entsprechende Anweisungen erhalten.

"Für Moskau ist es inakzeptabel. Für den Westen, vermute ich, auch. Dies ist nichts anderes als ein praktischer Schritt zu einem Dritten Weltkrieg", sagte der Politologe.

Polen und die baltischen Staaten seien keine Subjekte der Weltpolitik, und Washington und Brüssel könnten sie opfern, wie es gegenwärtig mit der Ukraine geschieht, fügte er hinzu. Sollte dies geschehen, käme die Frage nach dem Einsatz von Nuklearwaffen ernsthaft auf.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei RIA Nowosti.

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