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Niemand sollte überrascht sein, dass die Türkei gegen die Asowstal-Vereinbarung verstoßen hat

Die Entscheidung Ankaras, die Kriegsgefangenen von Asowstal in die Freiheit zu entlassen, dient nicht dem Ansehen Russlands, da der Vorgang den Anschein erweckt, Moskau sei erneut hinters Licht geführt worden und könne nichts dagegen unternehmen, um künftige Verstöße gegen Vereinbarungen durch die Türkei oder andere vermeintlich vertrauenswürdige Partner zu unterbinden.
Niemand sollte überrascht sein, dass die Türkei gegen die Asowstal-Vereinbarung verstoßen hatQuelle: AFP © Pressedienst des ukrainischen Präsidenten/AFP

Von Andrew Korybko

Kremlsprecher Dmitri Peskow verurteilte den Verstoß der Türkei gegen die Asowstal-Vereinbarung, die vergangenes Jahr zwischen Moskau und Kiew über das Schicksal der Kriegsgefangenen von Asowstal im Rahmen eines größeren Gefangenenaustauschs zwischen Russland und der Ukraine ausgehandelt wurde. Diese ukrainischen Kriegsgefangenen sollten bis zur Beilegung des Konflikts in der Türkei interniert bleiben, wurden aber nach dem kürzlichen Besuch von Selenskij in Ankara kurzerhand freigelassen und nach Hause geschickt, wo sie anschließend gelobten, wieder an die Front zurückzukehren.

Peskow wies darauf hin, dass die Türkei im Vorfeld des NATO-Gipfels unter enormem Druck stand, betonte aber, dass "der Bruch dieser Vereinbarung niemandem schmeichelt". Dennoch sollte diese Wendung niemanden überraschen, da von Anfang an davon ausgegangen werden musste, dass diese Kriegsgefangenen in dem Moment, in dem sie in die Türkei verlegt wurden, unweigerlich vor dem Ende des Ukraine-Konflikts in die Freiheit entlassen werden. Diese zynische Einschätzung basiert auf drei Punkten.

Erstens war der Druck der NATO auf die Türkei vorhersehbar, insbesondere im Vorfeld des Gipfeltreffens in Vilnius, das diese Woche stattfindet. Zweitens rechnete sich Präsident Erdoğan aus, dass es besser sei, diese Kriegsgefangenen nach dem Besuch von Selenskij und vor dem Gipfeltreffen in Vilnius freizulassen, als sie interniert in seinem Land zu belassen, weil er damit den Behauptungen der Mainstream-Medien entgegenwirken könne, er sei "prorussisch". Und schließlich erwartete Erdoğan, dass sich Russlands Reaktion auf reine Rhetorik beschränken wird und keine bedeutsamen Konsequenzen folgen würden.

Was den letztgenannten Punkt betrifft, so ist die strategische Partnerschaft zwischen Moskau und Ankara in den siebzehn Monaten seit Beginn der russischen Sonderoperation felsenfest geblieben, trotz des enormen Drucks der NATO auf die Türkei, die Beziehungen zu Russland vollständig abzubrechen. Ein Beweis dafür, für wie wichtig Präsident Putin diese Partnerschaft hält, ist, dass er seinen Leuten nicht befohlen hat, die bilateralen Beziehungen mit Ankara einzuschränken, obwohl die Türkei der Ukraine Kampfdrohnen geliefert hat, für den Einsatz gegen die russischen Streitkräfte.

Es wäre daher nicht mit der Politik des Kremls vereinbar gewesen, wenn Putin auf die Verletzung dieser Asowstal-Vereinbarung durch die Türkei überreagiert hätte, indem er sie als Vorwand für eine einseitige Schwächung der strategischen Partnerschaft genutzt hätte, die trotz vergleichsweise viel schlimmeren Provokationen aus Ankara bisher geduldig aufrecht gehalten wurde. Allerdings lässt sich auch nicht leugnen, dass die Optik hier nicht zugunsten Russlands ausfällt, da es den Anschein vermittelt, als sei Moskau wieder einmal hinters Licht geführt worden, ohne etwas dagegen unternehmen zu können, um künftige Verstöße gegen Vereinbarungen durch die Türkei oder durch andere vermeintlich vertrauenswürdige Partner zu unterbinden.

Wenn der politische Wille vorhanden ist, was aufgrund der traditionellen Undurchsichtigkeit der russischen Entscheidungsprozesse unmöglich einzuschätzen ist, könnte Russland realistischerweise höchstens ernsthaft darüber nachdenken, die bisherige Rolle der Türkei als Vermittler durch ein anderes Land oder eine Gruppe von Ländern zu ersetzen. In der Praxis könnte dies bedeuten, dass Indien, die Vereinigten Arabischen Emirate und/oder die Afrikanische Union entsprechend ihrem zuvor bekundeten Interesse diese Verantwortung übernehmen, sollten sie darum gebeten werden.

Hier liegt jedoch die Herausforderung, da Selenskij und/oder seine westlichen Paten aus irgendeinem Grund darauf bestehen könnten, dass die Türkei weiterhin die Rolle als Vermittler einnimmt. In diesem Fall könnte selbst der stärkste politische Wille Russlands, ein anderes Land oder eine Gruppe von Ländern als Vermittler zwischen Moskau und Kiew einzusetzen, zum Scheitern verurteilt sein, obwohl der Kontrapunkt darin besteht, dass überhaupt keine Vermittlung stattfinden kann, wenn sich beide Seiten nicht darüber einig werden, wer ihren Dialog in Zukunft moderieren soll. Vor diesem Hintergrund könnte möglicherweise alles noch wesentlich interessanter werden.

Wie in dieser Analyse dargelegt, deuten mehrere Entwicklungen der vergangenen Woche stark darauf hin, dass die russisch-ukrainischen Gespräche in irgendeiner Form bis Ende des Jahres wieder aufgenommen werden. Aufgrund des jüngsten Besuchs von Selenskij und des angekündigten Besuchs von Präsident Putin in Ankara wurde davon ausgegangen, dass die Türkei erneut als Austragungsort der angeblich bevorstehenden Friedensgespräche dienen würde. Dies kann jedoch nach dem Verstoß gegen die Asowstal-Vereinbarung nicht mehr als selbstverständlich angesehen werden, wenn Russland den politischen Willen aufbringt, künftige Verstöße gegen Vereinbarungen zu unterbinden.

Wenn hinter den Kulissen hartnäckig darauf bestanden wird, dass jemand anderes die Rolle des Vermittlers einnehmen soll, könnten Kiew und seine westlichen Paten gezwungen sein, dem widerwillig zuzustimmen und alternative Optionen zu prüfen, wenn sie es mit der Wiederaufnahme dieser Gespräche ernst meinen. Natürlich könnte es durchaus sein, dass Präsident Putin es vorzieht, dass sein türkischer Amtskollege weiterhin zwischen seinem Land und der Ukraine vermittelt, aber das lässt sich erst dann mit Sicherheit sagen, wenn ein solches Signal eindeutig aus Moskau gesendet wird.

Bis dahin gibt es Grund zu der Annahme, dass ein anderes Land oder eine Gruppe von Ländern die Rolle der Türkei einnehmen oder zumindest von Russland diesbezüglich diskret angesprochen werden könnte. Objektiv gesehen könnten Indien, die Vereinigten Arabischen Emirate und/oder die Afrikanische Union in dieser Hinsicht zuverlässiger sein, da sie keine NATO-Mitglieder wie die Türkei sind und daher nicht in gleicher Weise unter Druck gesetzt werden können. Indien verhält sich gegenüber dem Ukraine-Konflikt auch ernsthaft neutral, da es sich bisher konsequent von antirussischen Resolutionen in der UN-Generalversammlung enthalten hat.

Die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate und etwas mehr als die Hälfte der Mitglieder der Afrikanischen Union stimmten alle für mindestens eine dieser Resolutionen, während die Türkei alle vier Resolutionen der UN seit Beginn des Konflikts unterstützt hat. In Verbindung mit der Lieferung von Kampfdrohnen an die Ukraine und der Verletzung der Asowstal-Vereinbarung lässt sich argumentieren, dass es längst überfällig ist, dass Russland endlich ein anderes Land oder eine Gruppe von Ländern als Vermittler in Betracht zieht, anstatt der Türkei diese Rolle weiterhin zu überlassen und Ankara Glauben lässt, das unfreundliches Verhalten keine Konsequenzen nach sich zieht.

Übersetzt aus dem Englischen

Andrew Korybko ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe, der sich auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien sowie auf Chinas Belt & Road-Initiative, Russlands geopolitischen Balanceakt und hybride Kriegsführung spezialisiert hat.

Mehr zum Thema – Basarfeilscher Erdoğan, das türkische Volk und die freigelassenen Asow-Führer

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