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Getreide-Deal hat nichts mit den Plänen in der Ukraine zu tun – Erpressung bringt ihn nicht zurück

Viele finden, dass der Getreide-Deal Russland von Anbeginn geschadet habe, es hätte viel früher aussteigen sollen. Andere sagen: "Den Deal holt sich Erdoğan wieder." Dritte finden wiederum, dass der Deal nützlich war und sich nur überlebt habe – und Erpressung würde Erdoğan nicht wagen.
Getreide-Deal hat nichts mit den Plänen in der Ukraine zu tun – Erpressung bringt ihn nicht zurückQuelle: Sputnik © Verteidigungsministerium der Türkei

Von Pjotr Akopow

Die Aussetzung des Getreideabkommens durch Russland fiel mit Kiews Terroranschlag auf die Krim-Brücke zusammen. Doch es hat keinen Sinn, nach einem Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen zu suchen. Die Entscheidung, das vor einem Jahr geschlossene und bereits mehrfach verlängerte Abkommen nun nicht mehr zu verlängern, wurde von Wladimir Putin schon in der vergangenen Woche getroffen, und Russlands Präsident erklärte öffentlich die Gründe dafür: die Nichterfüllung der Bedingungen für die russischen Getreide- und Düngemittelausfuhren. Die Hoffnungen auf eine Verlängerung – beziehungsweise jetzt eben auf eine Erneuerung – ruhen nach wie vor auf Recep Tayyip Erdoğan, beziehungsweise er hofft am meisten darauf. Die Türkei war neben der Ukraine der Hauptnutznießer des Abkommens. Warum hat Russland sich geweigert, das Abkommen zu verlängern, und gibt es überhaupt Chancen für eine Wiederaufnahme des Abkommens?

In der russischen Öffentlichkeit herrscht die Meinung vor, dass das Abkommen für Russland schon lange nur Nachteile hat und viel früher hätte gekündigt werden müssen. Das ist nicht wahr. Der Kreml machte sich keine Illusionen über den Willen des Westens, die Sanktionen gegen die russischen Agrarexporte aufzuheben – doch er verlängerte das Abkommen mehrmals aus durchaus verständlichen Gründen.

Die unter dem Banner der Vereinten Nationen ausgehandelte Vereinbarung sollte verhindern, dass die westliche Propaganda mit auch nur einem Fitzelchen Glaubwürdigkeit behaupten konnte, dass Russland für die steigenden Lebensmittelpreise verantwortlich sei und die Welt, insbesondere die Entwicklungsländer, aushungern wolle. Diese Anschuldigungen konnte man nicht einfach in den Wind schlagen, denn die Länder des Globalen Südens sind in der Tat in hohem Maße von den russischen und waren von den ukrainischen Weizenexporten abhängig.

Deshalb war es für Moskau wichtig, der nicht westlichen Welt – um deren Sympathie Russland und der Westen gegeneinander ringen – zu zeigen, dass Russland ihre Probleme versteht und bereit ist, sie zu lösen – nur dass Russland sie im Fall des Getreidedeals nicht im Alleingang lösen kann. Wenn der Westen die Hindernisse für die russischen Agrarexporte nicht beseitigen will, dann kann auch Moskau nicht ewig warten. Und kommt der Westen aber seinen Verpflichtungen nach, dann wird das Geschäft eben wiederaufgenommen.

Der zweite Grund für Russlands Geduld waren die Beziehungen zur Türkei: Die Wiederwahl von Erdoğan war für Russland wichtig. Als dies geschah, entfiel die Notwendigkeit einer Verlängerung des Abkommens auch in dieser Hinsicht, denn obwohl das Abkommen auch für die Türkei wichtig war, gelang es Erdoğan nicht, den Westen zur Aufhebung der Sanktionen gegen russische Unternehmen zu bewegen. Möglicherweise hat er geglaubt, dass Russland das Abkommen um der Beziehungen zu seinem Land willen weiter verlängern würde, und strengte sich nicht allzu sehr an. Nun wartet der türkische Präsident auf ein Treffen mit Putin im nächsten Monat, in der Hoffnung, eine Erneuerung des Abkommens auszuhandeln. Die Chancen dafür scheinen im Moment jedoch gering – es sei denn, die Türkei schafft es, den Westen dazu zu bringen, die Bedingungen Russlands tatsächlich zu erfüllen.

Jetzt stellt sich die Frage: Kann die Türkei Russland vielleicht erpressen – etwa mit drohendem Gesichtsverlust, indem sie in den Raum stellt, dass die Ausfuhr ukrainischen Getreides ohne die russische Zustimmung, also gänzlich ohne eine Vereinbarung, fortgesetzt wird? Theoretisch gibt es Möglichkeiten dafür: Türkische Kriegsschiffe könnten ukrainische Frachter nach und aus Odessa eskortieren.

Praktisch würde dies jedoch bedeuten, dass man am Rande eines militärischen Zusammenstoßes zwischen Russland und der Türkei balanciert, weil sich dann Schiffe eines NATO-Landes in der Zone der russischen militärischen Sonderoperation wiederfinden würden. Moskau hatte wiederholt vor der Unzulässigkeit jeglicher Beteiligung von Streitkräften der NATO-Länder an den Feindseligkeiten in der Ukraine gewarnt – und das Vollpumpen der Ukraine mit Waffen seitens des Westens in allen Ehren, aber zu einer direkten Beteiligung ist im Bündnis niemand bereit. Der angeblich humanitäre Charakter einer solchen türkischen Mission wäre unter den gegenwärtigen Umständen keine Rechtfertigung für den Einsatz von Streitkräften – und Ankara ist sich dessen wohl bewusst.

Auch wird der türkische Präsident erst recht nicht riskieren, dass es schlimmstenfalls zu einem militärischen Konflikt kommt, zumindest aber zu einem Abbruch der russisch-türkischen Beziehungen (oder zu deren Unterbrechung, wie im Herbst 2015 nach der Zerstörung eines russischen Kampfjets am Himmel über der türkisch-syrischen Grenze). Erdoğan wird stattdessen versuchen, mit Putin eine Verlängerung des Abkommens auszuhandeln, um einerseits die äußerst günstige Position der Türkei als Handels- und Logistikvermittler zwischen Russland und dem Westen zu erhalten und andererseits seine eigene Position in der neuen Runde der großen Verhandlungen mit dem Westen zu stärken, die vor dem Hintergrund der Frage nach der Aufnahme Schwedens in die NATO stattfindet. Russland seinerseits wird sein komplexes und notwendiges Spiel mit der Türkei fortsetzen, bei dem viele Themen – von der Wirtschaft bis zur Geopolitik, von Gaspipelines bis Syrien – eng miteinander verknüpft sind.

Gleichzeitig haben weder die derzeitige Aussetzung des Deals noch seine mögliche Wiederaufnahme in Wirklichkeit irgendetwas mit Russlands Plänen für die Ukraine zu tun.

Die militärische Sonderoperation wird so lange fortgesetzt, bis ihr Hauptziel erreicht ist: die Demontage der antirussischen und prowestlichen Regierung. Ob Schiffe mit ukrainischem Getreide noch einige Zeit aus Odessa auslaufen, bevor diese Ziele erreicht sind, wird letztlich keinen Einfluss auf das Schicksal der Ukraine haben. Das hat sich bereits auf der Waage der russischen Geschichte entschieden – und weder ein Abkommen noch westliche Waffen, noch türkische Spiele können das verhindern.

Mehr zum Thema – Nach Terroranschlag auf Krim-Brücke: Russland meldet Zerstörung ukrainischer Drohnenbasis im Hafen von Odessa

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti.

Pjotr Akopow ist ein russischer Historiker und Geschichtsarchivar (Abgänger des Moskauer Staatlichen Geschichtsarchivarischen Instituts). Seit dem Jahr 1991, nach einer Geschäftsreise in die damalige Bürgerkriegszone Südossetien, schrieb und schreibt er als Journalist für zahlreiche Medien: Golos, Rossijskije Westi, bis 1994 Nowaja Gaseta, ab 1998 Nesawissimaja Gaseta; ab Anfang der 2000er Jahre als politischer Beobachter bei Nowaja Model und im entsprechenden Ressort der Iswestija. Er arbeitete als Sonderberichterstatter beim Chefredakteur des Polititscheski Journal, dessen Chefredakteur er 2007 wurde. Der ehemalige stellvertretende Chefredakteur der Wsgljad ist zudem ständiger politischer Beobachter bei RIA Nowosti. 

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