Meinung

Die Berliner Farce zur Bundestagswahl – dritter Akt

Die Durchführung der Bundestagswahlen in Berlin im letzten Herbst verlief auf typisch Berliner Weise: desorganisiert und prinzipienlos. Jetzt geht es um die Wiederholung. Doch alle Zeichen deuten darauf hin, dass diese in einer kollektiven politischen Anstrengung auf der ganz langen Bank landet.
Die Berliner Farce zur Bundestagswahl – dritter AktQuelle: www.globallookpress.com © Emmanuele Contini via www.imago-

Von Dagmar Henn

Berlin ist und bleibt eine Farce, aber der Umgang mit der Entscheidung des Berliner Wahlausschusses über die Wiederholung der letzten Bundestagswahl ist sozusagen die Inszenierung des Satzes "Egal, was meine Wähler denken" von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock mit vielen Komparsen.

Klar, man kann sich auf die Detailfragen einlassen, in wie vielen Wahlbezirken die Wahl tatsächlich wiederholt werden soll, die letztes Jahr im Chaos versunken war – mit geschätzten Wahlergebnissen, falschen Stimmzetteln, Wählern, die gar nicht wahlberechtigt waren etc. pp. Der Bundeswahlleiter hatte die Ergebnisse in sechs Wahlkreisen für ungültig erklärt, genau jedem zweiten in Berlin, die zusammen 1.200 Stimmbezirken entsprechen. Die Koalitionsmehrheit im Wahlprüfungsausschuss des Bundestages will in nur 431 davon erneut wählen lassen. Die CDU/CSU fordert eine Wiederholung in allen 1.200 Stimmbezirken und will vor das Verfassungsgericht ziehen, wodurch die Wahl erst kurz vor der nächsten Bundestagswahl wiederholt werden dürfte.

Aber wenn jetzt die Ampelkoalition die Zahl der einbezogenen Stimmbezirke schrumpft und die CDU/CSU dagegenhält und klagen will, ist die entscheidende Information nicht, worüber gestritten wird, sondern, welches Resultat dieser Streit erzeugt. Denn in einem sind sie sich fast alle einig, die im Berliner Reichstagsgebäude sitzen – auf keinen Fall soll jetzt gewählt werden, nicht einmal ein bisschen. In wenigen Tagen droht noch eine Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichts, die eine baldige Wiederholung anordnen könnte, sofern nicht ein Beschluss des Bundestages dem bereits im Weg stünde ...

Schließlich fände eine Wiederholung der Wahl auf Grundlage völlig anderer Informationen statt. Wer von den Grünen-Wählern hatte schon tatsächlich, willentlich für Deindustrialisierung und blinde US-Treue gestimmt? Wer von all den anderen für diese Frontalstellung gegen Russland und für das Frieren für die Ukraine? Wer von den Wählern der beiden Direktmandate der Linkspartei hat seine Stimme für den Kotau vor der westlichen Kriegspolitik in die Urne gelegt?

Das mit dem Wahlrecht ist ohnehin so eine Sache in Deutschland. Der Bundestag wird von Wahl zu Wahl größer, weil man irgendwie keinen Weg findet, das Problem der Überhangmandate ordentlich zu lösen, obwohl langsam schon die ehemaligen Verfassungsrichter wegsterben, die vor Jahren einmal vorgaben, dieses Problem dürfe nicht zu einem ständigen Wachstum des Parlaments führen. Die Eigeninteressen der Parlamentsinsassen sind schlicht zu stark.

In einer repräsentativen Demokratie wie in der Bundesrepublik ist die politische Wirksamkeit des Wählers, also der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, weitgehend auf den Wahlakt selbst beschränkt. Das ist der Grund, warum sorgfältig damit umgegangen werden sollte – die ganze Legitimität des Regierungshandelns kann nur darauf beruhen. Dem Berliner Verwaltungsgericht, das entschieden hatte, die Wahlen müssten wiederholt werden, war dieser Punkt auch bewusst. Die Ampel und das Parlament sehen das eher wie Baerbock: Egal, was meine Wähler denken.

Ist es eine Verschwörungstheorie zu vermuten, dass die Ampel genau deshalb von der Entscheidung des Bundeswahlleiters abweicht und die Wahl in weit weniger Stimmbezirken wiederholen lassen will, um die angekündigte Reaktion der CDU zu ermöglichen, die dagegen klagen will? Sie sich tatsächlich im Hintergrund abgesprochen haben, um als Ergebnis eines Verfahrens vor dem Verfassungsgericht zu erreichen, dass diese Wahlwiederholung erst ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl stattfindet?

Es gibt einige Argumente, die sehr dafür sprechen. Das erste: Auch wenn es die Medien beteuern, dass die zwei Direktmandate der Linkspartei in Berlin mit so großem Vorsprung gewonnen wurden, dass sie bei einer Wiederholung kaum in Gefahr wären, könnte die Wirklichkeit anders aussehen. Wenn auch die Vertreter dieser Partei mittlerweile fast vollständig den Schwur auf die NATO abgelegt und jeden Anspruch auf eine eigenständige Friedenspolitik vergessen haben – die Reinszenierung der Zustimmung zu den Kriegskrediten durch die SPD 1914 also schon stattgefunden hat –, ist noch lange nicht gesagt, dass die Wähler in der erforderlichen Zahl diese Unterwerfung mittragen.

Sollte die Linkspartei aber völlig aus dem Bundestag fliegen, könnte das das innere Kräfteverhältnis so weit ändern, dass zumindest Teile der Partei echte Proteste organisieren oder an ihnen teilnehmen, bei denen auch der Wirtschaftskrieg und seine Folgen eine Rolle spielen. Das wäre weder der heutigen Parteielite noch der Bundesregierung recht; diese Fraktion der Linkspartei schafft erst die Möglichkeit, sozialen Widerstand "rechts" zu nennen. Es gibt also ein gemeinsames Interesse von Linkspartei bis CDU, diesen Zustand nicht oder wenigstens so spät wie möglich anzutasten.

Das zweite Problem, das zu einer Verschleppung der Wahlwiederholung motiviert, ist, dass die eigentliche Stimmung in der Bevölkerung so gut wie unsichtbar gemacht wird. Von Protesten, die nicht genehm sind, wird nicht berichtet, und Umfragen sind üblicherweise sorgfältig auf das erwünschte Ergebnis hin formuliert. Einen wirklichen Einblick bekäme man nur durch Wahlen. Wahlen, die die Bundesebene betreffen. Stützt die Bevölkerung dieses Landes tatsächlich die Sanktionspolitik und friert freiwillig für die Ukraine? Oder ist der Unmut doch größer, als die veröffentlichte Meinung glauben machen will? Vieles spricht dafür, dass die Berliner Politelite damit lieber Schrödingers Katze spielt. Ob die Katze lebt oder nicht, Hauptsache, es schaut keiner in die Kiste.

Mit der Legitimität ist es ohnehin schwierig. Die jetzt regierende Koalition bemüht sich, den Rekord nicht angekündigter Handlungen, den die Vorgängerregierung mit den Corona-Maßnahmen gesetzt hatte, noch zu übertreffen. Sicher, im Wahlprogramm aller Ampelparteien stand etwas von Klimaschutz und viele Märchen über erneuerbare Energien, aber hätte irgendeine Partei einen Stich gemacht, die auf ihre Wahlplakate geschrieben hätte: "Mit uns hat Ihr Büro noch 19 Grad"? Oder gar "Wenn wir regieren, werden Sie kein Fleisch mehr essen, weil Sie das Geld für die Stromrechnung brauchen?"

Es mag ja einen gewissen Anteil an Wählern geben, die auch das noch freudig unterschrieben hätten. Allerdings käme da ein anderes ethisches Problem ins Spiel. Es ist nämlich eine Sache, etwas für sich selbst zu akzeptieren, aber eine ganz andere, das anderen Menschen aufzunötigen. Ein Recht, das der Souverän in Gestalt des einzelnen Wählers nicht besitzt, kann er auch nicht an politische Vertreter übertragen. Derart tiefe Eingriffe in das alltägliche Sein, wie sie die letzten zwei Bundesregierungen am laufenden Band produzierten, hätten selbst dann, wenn eine überwältigende Mehrheit hinter ihnen stünde, eine begrenzte Legitimität. Mit einer knappen Mehrheit führt das genau zu dem, was der Mainstream immer als Ergebnis von Propaganda darstellen will – zu einer Spaltung der Gesellschaft.

Das ist nicht einmal eine Frage von richtig oder falsch. Eine knappe Mehrheit bedeutet immer einen eingeschränkten Handlungsspielraum, wenn man das Wohl der Gesellschaft im Blick hat. Wer gerade einmal haarscharf über den 50 Prozent liegt, kann nicht durchregieren, wie das Bundeswirtschaftsminister Habeck gern möchte. Aber wir haben gegenwärtig nicht nur eine Bundesregierung, wir haben einen ganzen Parteienblock, dessen Positionen (wie zu den Sanktionen) massive Folgen für jeden Einzelnen haben, dessen Mehrheit jedoch im Verhältnis zu diesen Folgen schwach ist.

Man kann sich die Frage politischer Legitimität als eine Art mechanisches Modell vorstellen. Je tiefer die Eingriffe gehen, desto stärker müssen sie von der Bevölkerung getragen sein. Und zwar nicht im Sinne von geduldet, sondern im Sinne von unterstützt. Wenn tiefe Eingriffe mit schwacher Legitimität erfolgen, dann besteht die einzige Lösung in stetig steigender Repression, was allerdings nur vorübergehend funktioniert. Einzig eine breite und klare Zustimmung (und da reden wir von 70 bis 80 Prozent) würde die Eingriffe nicht nur rechtfertigen, sondern auf Dauer funktionieren lassen, die diese Bundesregierung vorgenommen hat. Weil gesellschaftlich nichts gefährlicher ist, als wenn eine Hälfte der Bevölkerung, oder sei es nur ein Drittel, diese Eingriffe als persönlich übergriffig empfindet.

Keine Bundesregierung seit den allerersten hat auf solche Art und Weise ins Leben ihrer Bürger eingegriffen. Aber damals ging es um Aufbau, nicht um Abbau. Der Angriff auf die Lebensverhältnisse der meisten Deutschen, die Verwicklung in einen Krieg gegen Russland, das alles ist kaum legitimierbar. Der schwindende Teil der Bundespolitiker, die sich jemals Gedanken über solche Fragen gemacht haben, muss das wissen, und manche Anzeichen von Panik, wie die steten Wiederholungen der Floskel von der "russischen Desinformation", zeigen, dass sie sich der eigenen Schwäche bewusst sind.

Sollte man in die Kiste blicken, müsste man sehen, dass die Katze längst tot ist.

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