Meinung

Postfaktischer Moralismus – oder wie die Regierung Realität umdeutet

Wenn die Politik moralistische Bauchgefühle über Fakten und Vernunft stellt, irrt sie in gefährlichen Fahrwassern des Schwarz-Weiß-Denkens umher. Eine E-Mail-Kommunikation mit dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) steht beispielhaft dafür und spiegelt zugleich den Umgang der Regierung mit ihren Kritikern.
Postfaktischer Moralismus – oder wie die Regierung Realität umdeutetQuelle: Gettyimages.ru © picture alliance / Kontributor

Von Susan Bonath

Der Mensch neigt stets dazu, sein Handeln und Denken an Emotionen auszurichten. Wer in Gut oder Böse, Weiß oder Schwarz sondiert, kann sich im Alltag leicht und schnell entscheiden, flexibel sein. Die widersprüchlichere Realität objektiv bewerten kann man allein mit Bauchgefühlen aber nicht. Darum sollten zum Beispiel Politiker, Richter und Journalisten lernen, dafür einen Schritt zurückzutreten.

Gelehrt wird das vermutlich nirgendwo. Ob in Sachen Corona und Impfen, Ukraine und Russland oder Energie und Klima: Die deutsche Politik, mit ihr das Gros der Presse und Justiz, verliert sich zunehmend in moralinsaurer Hybris. Zuweilen mündet dies in einer aggressiven, nicht selten absurden Umdeutung der Realität. Politisch ist das ein Problem: Regierungen und Institutionen publizieren widerlegbaren Unsinn, entscheiden zunehmend irrational und handeln zuweilen gefährlich.

So ein postfaktischer Moralismus ist nicht neu in der Politik. Doch die derzeitige Ampel-Regierung scheint ihn auf die Spitze zu treiben. Politisch ist es außerordentlich gefährlich, eine möglichst objektive Realitätsschau durch Schwarz-Weiß-Bauchgefühle zu ersetzen und letztere als Wahrheit zu diktieren. Wie sehr das BMG in solchen Denkmustern gefangen ist, zeigt eine eher beiläufige Posse am Rande eines Mailverkehrs mit der Autorin zur aktuellen Impfkampagne.

Beim Flunkern ertappt

84 Darsteller bewerben für das BMG den neuen Corona-Booster. Gesundheitsminister Karl Lauterbach selbst hatte beim Vorstellen der Kampagne versichert, die Protagonisten seien keine bezahlten Schauspieler. Dass dies zumindest in einem Fall nachweislich nicht stimmt, geht eindeutig aus einem Interview der Epoch Times mit einem der Protagonisten, dem "Rentner Uwe", hervor. Er wurde nämlich über eine Künstler-Agentur angeheuert, die ihn als Kleindarsteller listet.

Einmal mehr wurde das BMG also beim Flunkern ertappt. Auf Twitter trendete der Hashtag #84Schauspieler. Im Ministerium reagierte man leicht gereizt auf Presseanfragen, bestritt Zusammenhänge zwischen Agentur und Darsteller und legte viel Gewicht auf die Vergangenheit des Rentners: Zwei Fluchtversuche aus der DDR und acht Monate Haft. Daher liebe er heute die Freiheit und nutze sie, sich impfen zu lassen.

Doch die Darstellung von BMG-Sprecher Hanno Kautz passt in einem Punkt nicht zur Geschichte. Demnach habe "Rentner Uwe" 1978 und 1989 versucht, aus der DDR zu fliehen. "Er ist deshalb verhaftet und zudem wegen 'Herabwürdigung und Angehöriger der Grenztruppen' zu acht Monaten Zuchthaus verurteilt worden", so Kautz. Problem: Zu dieser Zeit gab es in der DDR weder Zuchthäuser noch Zuchthausstrafen.

Kein Interesse an Fakten

Besagte Zuchthausstrafen verbannte die DDR-Führung nämlich 1968 – zwei Jahre früher als die alte BRD übrigens – ein für alle Mal aus ihrem Strafgesetzbuch. Somit kann Uwe R. formell nicht zu einer solchen verurteilt worden sein. Das ist ein nachprüfbarer Fakt.

Darauf angesprochen, reagierte der BMG-Sprecher patzig statt sachlich: "Dann recherchieren Sie bitte gründlicher." Zudem sei ein Artikel (Bezahlschranke) in der Märkischen Allgemeinen Zeitung über Uwe R. aus dem Jahr 2019, auf den Kautz zuvor verwiesen hatte, "ebenfalls echt" – was allerdings gar niemand bestritten hatte.

Das lässt vermuten, dass Kautz selbst die DDR-Gefängnisse als Zuchthäuser bewertet. Das kann man gern tun, und dies durchaus auch gut begründen. Man müsste es jedoch als Meinungsäußerung kenntlich machen. Denn an der Tatsache, dass "Rentner Uwe" formell kein Zuchthaus-Urteil bekommen haben kann, ändert das nichts. Dass die DDR diese Art Strafen 1968 abgeschafft hatte, geht sogar aus einem Wikipedia-Eintrag hervor.

Auf diesen Hinweis reagierte der BMG-Sprecher noch unwirscher: Wörtlich schrieb er: "Unter uns: Sie haben mir nicht gerade wirklich einen Wikipedia-Eintrag als Basis für eine Frage geschickt?" Sodann empfahl er einen Besuch in der Gedenkstätte Hohenschönhausen, dem früheren Stasi-Gefängnis. "Da können Sie sich bestens über die politische Verfolgung in der DDR informieren." Nur spielt auch die moralische Bewertung der Gedenkstätte keine Rolle für den Fakt, dass es nun einmal kein Zuchthaus-Urteil gegen den Kleindarsteller gegeben haben kann – völlig unabhängig davon, wie schlimm die Strafe war. Eine Regierung sollte schon zwischen Fakt und moralischer Bewertung trennen können.

Irrationale Fahrwasser

Als Autorin, die für regierungsseitig als "Feindfunk" eingestufte Medien arbeitet, ist man freche Antworten von der Regierung gewohnt. Davon abgesehen zeigt Kautz' Einlassung deutlich die politische Fahrtrichtung: weg von realen Fakten, hin zum blanken Moralismus. Hin zu einer politisch neu gedeuteten "Wahrheit".

Anders gesagt: Weil die Bundesregierung DDR-Gefängnisse als Zuchthäuser bewertet, gab es dort eben auch nach 1968 noch Zuchthausstrafen – basta. Und wenn die Bundesregierung Wikipedia nicht mag (seit wann eigentlich?), muss sie auf den Sachverhalt nicht eingehen. Dass man auf Wikipedia – unabhängig davon, wie man die Plattform insgesamt bewertet – einen Link zum besagten DDR-Strafgesetzbuch findet, woraus die Abschaffung dieser Strafen hervorgeht: Geschenkt.

Qualitativ entspricht die BMG-Argumentation der Regierungspropaganda von angeblich stets und ständig lügenden Russen, wohl einfach, weil sie Russen sind. Abgesehen davon, dass dies ein klassisch rassistischer Denkvorgang ist, sofern er denn dahintersteckt: So umgeht man auch jedes sachliche Prüfen von Inhalten und ersetzt es mit moralistischem Geschrei: Lügner!

Der Ton des BMG spiegelt trefflich den politischen Umgang mit Maßnahmengegnern, kritischen Wissenschaftlern und Ungeimpften in der Causa Corona wider. Genauso steht er stellvertretend für den Umgang mit Menschen, die den antirussischen Nationalismus und Faschismus in der Ukraine verurteilen oder einfach nur die NATO nicht in der Rolle des einzig wahren Guten sehen. Moralinsaure Hybris eben, die Sachargumente ausblendet – ein politisch geförderter postfaktischer Moralismus, mit dem die Regierenden – zum Nachteil des Großteils der Bevölkerung – in irrationale und gefährliche Fahrwasser steuern. 

Mehr zum Thema - Bürgerlicher Stalinismus: Die Universität Bonn und die Causa Guérot

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.