Meinung

"Fragwürdige Recherchen": Seymour Hersh, die Nord-Stream-Enthüllung und die Medien

Hersh gilt als eine journalistische Legende, erfährt jedoch durch die jüngste Veröffentlichung altbekannte Diskreditierungsversuche zum Thema genereller Glaubwürdigkeit. Artikel auf der Online-Plattform Substack bedeuten für Hersh individuelle Freiheiten ohne wirtschaftlichen Interessen und der Kontakt zu seinen Lesern.
"Fragwürdige Recherchen": Seymour Hersh, die Nord-Stream-Enthüllung und die Medien© Screenshot: Twitter/ @Shehrijan5

Von Bernhard Loyen

Am 8. April 2022 feierte der amerikanische Investigativjournalist Seymour Hersh seinen 85. Geburtstag. Gut ein Jahr später beeindruckt der erfahrene Hersh, von Freunden und Kollegen nur Sy genannt, mit einem Scoup herausragender Tragweite zum Thema der Sprengungen der Nord-Stream-Pipeline. Nach Aussagen des jüngsten Hersh-Artikels war dies ein Werk der USA mit norwegischer Beteiligung.

Hersh veröffentlichte seinen aufsehenerregenden Artikel am 8. Februar mit dem Titel: "Wie Amerika die Nord-Stream-Pipeline ausschaltete" auf der Plattform Substack. Substack ist eine US-amerikanische Online-Plattform, auf der Autoren ihre Artikel, wie auch Newsletter innerhalb eines Abonnements anbieten können. Dabei können die Leser entscheiden, ob sie die Beiträge als unterstützenswert befinden.

Eines der ersten verlautbarten Kritikpunkte an der Artikelveröffentlichung war die Wahl Hershs, seine Enthüllung auf der Substackseite zu publizieren. Neben einer inhaltlichen Kritik sollte über diesen Hinweis suggeriert werden, dass Hersh möglicherweise Probleme hatte, den Artikel, also die brisanten Inhalte, "zu verkaufen". Diesbezüglich vorahnend veröffentlichte Hersh ebenfalls am 8. Februar einen erläuternden Artikel mit dem Titel: "Warum Substack? Eine Nachricht für Sie, die Leser, über mich und Substack".

Hersh erläutert zu Beginn, dass er die meiste Zeit seiner Karriere als Freiberufler gearbeitet hat. Er erinnert an seine Enthüllung von US-Kriegsverbrechen in Vietnam im Jahre 1969. Die Aufdeckung dieses menschenverachtenden Vorfalls sorgte für Hershs erste Ruhmeslorbeeren als entlarvender Journalist. Hersh schreibt dazu im Jahre 2023:

"Die Jungen (US-Soldaten) mordeten, vergewaltigten und verstümmelten stundenlang, ohne dass ein Feind zu sehen war. Das Verbrechen wurde achtzehn Monate lang auf höchster Ebene der militärischen Befehlskette vertuscht – bis ich es aufdeckte."

Hersh arbeitete über Jahrzehnte immer mit geheimen und dann ungenannten Quellen, was ihm den Ruf für unbedingte Seriosität und Glaubwürdigkeit gegenüber potentiellen Whistleblowern einbrachte. Auch diese Realität wird gegenwärtig argumentativ als negatives Momentum eingesetzt. Diesbezüglich erklärt Hersh in seinem Substack-Artikel:

"Solange ich mich erinnern kann, hat man mir gesagt, meine Geschichten seien falsch, erfunden, empörend – aber ich habe nie aufgehört. Im Jahr 2004, nachdem ich die ersten Geschichten über die Folterung irakischer Gefangener in Abu Ghraib veröffentlicht hatte, reagierte ein Sprecher des Pentagons, indem er meinen Journalismus als 'einen Wandteppich aus Unsinn' bezeichnete."

Der US-Beamte hätte zudem unterstellt, dass Hersh "ein Typ sei, der 'einen Haufen Mist an die Wand wirft' und 'erwartete, dass jemand herausschält, was echt ist'". Im Jahre 2023 klingt das über die Deutsche Presse-Agentur (dpa) als mögliche Argumentationsvorgabe lanciert so:

"Der Bericht zu Nord Stream scheint in weiten Teilen nur auf einer anonymen Quelle zu basieren. Seriöse (sic!) US-Medien gingen zunächst nicht auf den Bericht ein. Der 85-jährige Hersh gilt in den USA als erfahrener Investigativjournalist. In den vergangenen Jahren ist ihm jedoch vorgeworfen worden, Verschwörungstheorien zu verbreiten."

Hersh erläutert das seit Jahren sich dynamisierende Branchenproblem schwindender journalistischer Qualitätsstandards, bezogen auf stetig sinkende Verkaufs- und Klickzahlen, Abschaffung des Printgewerbes und dem täglichen Kampf "um sensationelle Schlagzeilen statt um investigativen Journalismus", so der Pulitzerpreisträger. Weiter heißt es: "Wie immer war das Geld Teil des Problems (...) Es sind immer noch viele brillante Journalisten am Werk, aber ein Großteil der Berichterstattung muss innerhalb von Richtlinien und Beschränkungen erfolgen, die es in den Jahren, in denen ich täglich für die Times schrieb, nicht gab."

Diese Einschränkungen persönlicher Qualitätsrichtlinien und der Erwartungshaltung gegenüber Arbeitgebern bewog Hersh im hohen Alter final seine Substack-Seite ins Leben zu rufen. Dazu schreibt er:

"Hier habe ich die Art von Freiheit, für die ich immer gekämpft habe. Ich habe beobachtet, wie sich ein Autor nach dem anderen auf dieser Plattform von den wirtschaftlichen Interessen seiner Verleger befreit hat, wie sie ohne Angst vor der Anzahl der Wörter oder dem Umfang ihrer Kolumnen in die Tiefe gegangen sind und – was am wichtigsten ist – wie sie direkt mit ihren Lesern gesprochen haben."

Zum Thema der Anbiederung für Gefälligkeiten durch Kollegen in der Politik, dem Verrat, also Verkauf von Integrität und Glaubwürdigkeit, erteilt Hersh eine unmissverständliche Absage:

"Ich war noch nie daran interessiert, mit Politikern zu verkehren oder mich bei selbstgefälligen Cocktailpartys – ich nannte sie immer 'Star-Fucking-Parties' – unter die Geldgeber zu mischen. Am wohlsten fühle ich mich, wenn ich mit den Militärs billigen Bourbon trinke, die Mitarbeiter der Anwaltskanzlei im ersten Jahr nach Informationen durchforste oder mit dem Juniorminister eines Landes, dessen Namen die meisten nicht kennen, Geschichten austausche. Das war schon immer mein Stil. Und wie sich herausstellt, ist es auch das Ethos dieser (Substack) Online-Community."

Dienst nach Vorschrift, also vorgegebenen Mustern und Sprachregelungen, lauten aktuell in Bezug auf Seymour Hersh und seinen Nord-Stream-Artikel in der deutschen Medienlandschaft im Rahmen folgender Beispiele so:

  • Süddeutsche Zeitung: "Die Schattenseiten eines Star-Reporters (...) Seinen jüngsten Stücken haftet jedoch immer mehr der Geruch der Konspiration an – und die Szene liebt ihn dafür."
  • ARD-Tagesschau: "Was ist dran am Hersh-Bericht über eine US-Sabotage? (...) Die US-Regierung dementiert, der Kreml fühlt sich bestätigt. Doch Hershs Version wirft viele Fragen auf (...) Experten kritisieren zudem, dass es lediglich eine einzige anonyme Quelle gibt, auf der der Bericht beruht (...) Zuletzt war der 85-Jährige jedoch mit fragwürdigen Recherchen aufgefallen."
  • T-Online: "Angebliche Enthüllung von Star-Reporter - Was am 'Nord-Stream-Komplott' zweifeln lässt (...) Seymour Hersh gilt als Reporterlegende (...) doch Zweifel an ihm gibt es schon länger (...) Wie glaubwürdig also ist Hersh heute noch?"
  • Handelsblatt: "Die vermeintliche Sabotage-Enthüllung ist substanzlos (...) Hersh konstruiert eine Verschwörung."
  • Berliner taz: "Pulitzerpreisträger auf Abwegen. Seymour Hersh glaubt, darauf eine Antwort gefunden zu haben. Leider missachtet er journalistische Standards."

Das Hamburger Magazin Spiegel bezeichnete noch im Jahre 2016 Seymour Hersh als "legendären amerikanischen Enthüllungsjournalisten". Gut achte Jahre später lautet die Einschätzung zum jüngsten Hersh-Artikel die aktuellen Stimmungen ordnungsgemäß bedienend:

"Der umstrittene US-Journalist Seymour Hersh schreibt in einem schwach belegten Blogbeitrag, die USA hätten die Nord-Stream-Pipelines gesprengt. Die russische Propaganda nutzt die Behauptung bereits für ihre Zwecke."

Die New York Times schrieb in einem Porträt über Seymour Hersh im Jahr 2018:

"Der einsame Wolf – im Journalismus wie in der Natur – ist eine seltene Kreatur. Viele Reporter bevorzugen den beruhigenden Komfort des Rudels. Sie sind oft edle Tiere, auch wenn sie ihre Betreuer vor große Herausforderungen stellen können. Seymour M. Hersh ist vielleicht der bekannteste einsame Wolf seiner Generation."

Man kann daher nachdrücklich Seymour Hersh, dem "begnadeten Einzelkämpfer (Artikelüberschrift - Süddeutsche Zeitung, Januar 2019), nur aufrichtig danken. Für seine professionelle Beharrlichkeit, seine unbestechlichen Qualitäten und den daraus resultierenden exquisiten Enthüllungen. So in Form des jüngsten Artikels, der dafür sorgte, dass endlich die in "Pipeline-Fatigue" und "US-Gehorsamsamnesie" befindliche Bundesregierung etwas Feuer unter den Paul-Löbe-Lehnstuhl erfährt. Oskar Lafontaine kommentierte zu den Enthüllungen von Hersh auf den NachDenkSeiten:

"Jetzt ist wieder bestätigt worden: Unser wichtigster Verbündeter hat einen Terroranschlag auf unsere Infrastruktur verübt. Aber: Die Feiglinge in Politik und Medien ducken sich weg und schweigen. Wir sind eine Vasallen-Republik, deren führende Vertreter unfähig und zu ängstlich sind, die Interessen der eigenen Bevölkerung zu vertreten."

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