Die Ryanair-Landung in Minsk und der westliche Werteverfall

Wer lautstark moralische Ansprüche erhebt, will häufig eigenes Fehlverhalten kaschieren. Mit dieser aus Kriminalfällen bekannten Sachlage lassen sich die westlichen Reaktionen auf die Landung der Ryanair-Maschine in Minsk beschreiben.
Die Ryanair-Landung in Minsk und der westliche Werteverfall© Darius Mataitis via www.imago-images.de

von Bernd Murawski

Nicht oft ist die Glaubwürdigkeit der Aussagen westlicher Politiker und Medien derart abhängig vom Verschweigen früherer Vergleichsfälle und unbequemer Fakten wie im Fall des nach Minsk umgeleiteten Ryanair-Flugs. Erst durch die Äußerung der russischen Regierungssprecherin Marija Sacharowa und die Stellungnahmen alternativer Portale sahen sich einige Leitmedien veranlasst, die Erinnerung an die erzwungene Landung der Maschine des bolivianischen Präsidenten Evo Morales im Juli 2013 aufzufrischen. Damals sperrten mehrere EU-Staaten ihren Luftraum und nötigten die Piloten zu einer Kehrtwendung, die nach Wien führte. Der Spiegel  argumentierte zu jener Zeit unter Berufung auf ausgewählte Experten, dass die Aktion rechtmäßig erfolgte.  

Niemand bezweifelte, dass der Grund für den verhinderten Weiterflug der Präsidentenmaschine die vermutete Anwesenheit Edward Snowdens war. Seine geplante Festnahme nach einer Zwischenlandung wurde von keinem einflussreichen Politiker oder Medienvertreter des Westens jemals hinterfragt und wird auch momentan nicht thematisiert. Die Parallele zur aktuellen Inhaftierung des Bloggers Roman Protassewitsch auf dem Minsker Flughafen durch weißrussische Ermittler wäre zu offensichtlich.

Um den jetzigen Fall als "beispiellos" kennzeichnen zu können, wird behauptet, dass – anders als im Jahr 2013 – eine Gefährdung der Passagiere bestanden hätte. Dies wird damit begründet, dass Vilnius zum Zeitpunkt der Ansteuerung des Minsker Flughafens näher gelegen war. Dabei wird selbstredend angenommen, dass der Routenwechsel erzwungen wurde. War dies aber der Fall?

Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko hat in einer Rede nicht nur den Westen beschuldigt, eine Diffamierungskampagne gegen sein Land und dessen Regierung zu betreiben, sondern auch konkrete Angaben gemacht, die seine Sicht der Ereignisse begründen. In deren Zentrum steht die Behauptung, dass der Flugkapitän der Ryanair-Maschine nach eigenem Ermessen handelte, nachdem er die Information über die Bombendrohung erhalten hatte.

Als Beleg wurde der Funkverkehr zwischen den Minsker Fluglotsen und den Piloten veröffentlicht. Da im Westen weder die Authentizität der publizierten Gespräche noch deren Vollständigkeit bezweifelt wurde, können sie als Faktum gelten. Bezeichnenderweise haben westliche Mainstream-Medien über deren Inhalt bislang so gut wie nicht berichtet. Aus der Rede Lukaschenkos wurden stattdessen Passagen mit pauschalen Beschuldigungen herausgepickt, die dessen Pendeln zwischen Wut und Unverfrorenheit suggerieren. 

Erzwungene Landung?

Aus der Konversation, die auf dem Portal Anti-Spiegel veröffentlicht ist, geht klar hervor, dass die Fluglotsen die Landung auf dem Minsker Flughafen als Empfehlung betrachteten. Anhand der Zeitangaben lässt sich zudem ablesen, dass die Kontaktnahme bald nach Eintritt in den weißrussischen Luftraum erfolgt sein muss. Zwischen der Information über die Bombendrohung und der Entscheidung der Piloten, Minsk anzusteuern, lagen rund 17 Minuten. Dies erklärt, weshalb sich die Maschine zu diesem Zeitpunkt bereits nahe der litauischen Grenze befand.

Dass sie dennoch nicht zu ihrem Bestimmungsort weiterflog, lag nach Lukaschenkos Worten an der Verweigerung einer Landeerlaubnis in Vilnius. Ein Grund mag sein, dass die Bombe gemäß dem Drohbrief dort gezündet werden sollte. Aber auch ukrainische Flughäfen und Warschau seien nicht bereit gewesen, den Flug entgegenzunehmen. Für diese Behauptung hat der weißrussische Präsident keine Belege präsentiert, allerdings geht aus dem veröffentlichten Gesprächsprotokoll hervor, dass aus der Flugkanzel Kontakt zu anderen Flughäfen wie auch zur Ryanair-Zentrale aufgenommen wurde. Dies war offenbar der Hauptgrund, weshalb sich die Entscheidung der Piloten verzögerte. Eine Publizierung des gesamten Funkverkehrs könnte den Fall maßgeblich erhellen. Dass es dazu bislang nicht gekommen ist, nähert Zweifel an der westlichen Bereitschaft zur Aufklärung des Sachverhalts.

In den hiesigen Medien wird die Begleitung des Flugs durch eine Mig-29 hervorgehoben. Dadurch soll die Ryanair-Maschine am Verlassen des weißrussischen Luftraums gehindert und zu einem Weiterflug nach Minsk gezwungen worden sein. Nach weißrussischer Darstellung ist der Jagdflieger jedoch erst aufgestiegen, nachdem sich der Ryanair-Kapitän für die neue Flugrichtung entschieden hatte. Als Beleg für die Korrektheit dieser Aussage kann der Umstand betrachtet werden, dass im Funkkontakt zwischen Flugkanzel und Minsker Tower kein Abfangjäger erwähnt wurde. Sollte sich der Pilot durch die Mig-29 drangsaliert gefühlt haben, hätte er sich wohl diesbezüglich geäußert.

Mögliche Motive hinter der Bombendrohung

Die Umstände der Landung der Ryanair-Maschine in Minsk betreffen nur die eine Seite des Ereignisses. Von vergleichbarer Relevanz ist die Frage nach dem Ursprung der Bombendrohung. Es besteht Konsens, dass die Hamas, die als Absender angegeben ist, den Text nicht verfasst hat. Mancherorts verbreitete Behauptungen, dass die betreffende E-Mail erst abgeschickt wurde, nachdem die Piloten über den vermeintlichen Anschlagversuch informiert wurden, erscheinen nicht glaubwürdig, weil dieselbe Botschaft rechtzeitig in Vilnius eintraf.

Für die Urheberschaft der Drohmeldung machen westliche Politiker und Medien die weißrussische Führung verantwortlich. Obwohl es kaum gelingen dürfte, stichhaltige Beweise zu beschaffen, erscheint die nach der Landung in Minsk erfolgte Verhaftung Protassewitschs als plausibles Motiv. Als Betreiber des Telegram-Kanals Nexta gilt er als einer der Köpfe der weißrussischen Opposition. Ihm wird von der Minsker Regierung "Staatsterrorismus" vorgeworfen, wohl auch im Kontext mit dem Putschversuch im April diesen Jahres.

Für eine Drahtzieherschaft Lukaschenkos spricht nicht nur, dass im Zuge des geplanten Staatsstreichs seine Ermordung geplant war. Die Entziehung der Austragung der Eishockey-Weltmeisterschaft, fortdauernde Kritik an den Praktiken der weißrussischen Vollzugsorgane wie auch die Hofierung von Oppositionellen signalisieren, dass der Westen keine normalen Beziehungen zur Minsker Führung will. Aus deren Sicht gab es daher nicht viel zu verlieren. Dass die Ryanair-Piloten nach einer Bombendrohung zu einer Notlandung auf dem Minsker Flughafen bewegt werden können, war zu erwarten. Eine Festnahme und Verurteilung Protassewitschs würde die Entschlossenheit der Staatsführung demonstrieren, während die unvermeidlichen Sanktionen verkraftbar wären.

Ebenso hätte der Westen Motive, über die Thomas Röper auf seinem Blog-Seite sinniert. Er zeigt sich überzeugt, dass jemand eine Falle gestellt hat, wobei als Akteure sowohl die Minsker Führung als auch westliche Stellen in Frage kämen. Da die weißrussische Protestbewegung nach der letztjährigen Präsidentschaftswahl kopflos agierte und die momentane Gallionsfigur Swetlana Tichanowskaja als westliche Marionette wahrgenommen wird, ließe sich mit dem dynamischen und politisch versierten Protassewitsch ein neuer Stern der Opposition aufbauen. Mehr dürfte der westlichen Propaganda seine aktuelle Opferrolle nützen als der weißrussischen Seite die Ausschaltung eines Widersachers.   

Ganz aus dem Blick soll auch Russland nicht genommen werden. Obwohl die Moskauer Führung nach außen den Eindruck erweckt, nicht beteiligt und vielmehr in eine unangenehme Lage geraten zu sein, hätte sie durchaus ein Motiv. Eine dramatische Verschlechterung der Beziehungen Weißrusslands zum Westen, in Gang gesetzt durch die Bombendrohung, würde dessen Abhängigkeit vom Russland vergrößern. Lukaschenkos Widerstand gegen eine Umsetzung des noch unter Boris Jelzin ausgearbeiteten Unionsvertrags könnte gebrochen werden.

"Cui bono?"-Überlegungen sind ohne weitere Belege allenfalls schwache Indizien. Auch wenn der Hauptverdacht auf die weißrussische Führung fällt, handelt es sich letztlich um Spekulationen, die für eine Schuldzuweisung nicht ausreichen. Wird das "Halte den Dieb"-Prinzip angewendet, dann wendet sich der Blick auf den Westen. Falls eine Landung der Ryanair-Maschine auf den Flughäfen der Nachbarstaaten tatsächlich verweigert wurde, könnte eine geplante Aktion unterstellt werden.

Anders war die Lage bei der Sperrung des Luftraums für die bolivianische Präsidentenmaschine im Jahr 2013. Wenn sich auch die Regierungen der beteiligten EU-Staaten in Zurückhaltung und Irritation übten und über die Rolle der USA nur spekuliert werden konnte, bestand an der westlichen Urheberschaft ebenso wenig Zweifel wie an dem Ziel einer Festnahme Snowdens.

Gezielte Stimmungsmache

Der Fall des nach Minsk umgeleiteten Ryanair-Flugs ist zur Klärung an die UN-Zivilluftfahrtorganisation ICAO übergeben worden. Es stellt sich die Frage, weshalb die westlichen Regierungen mit Verurteilungen und Sanktionen vorpreschen, obwohl eine detaillierte Untersuchung noch aussteht. Neben dem Bruch des für das westliche Rechtsverständnis zentralen "In dubio pro reo"-Prinzips ist zu konstatieren, dass bislang nur die weißrussische Seite einschlägige Dokumente veröffentlicht hat.

Doch nicht allein das Zurückhalten eigener Informationen erscheint unverständlich, sondern auch der Tatbestand, dass der von Minsk publizierte Funkkontakt der westlichen Öffentlichkeit vorenthalten wird. Dadurch kann das Narrativ einer erzwungenen Landung in Minsk weiter aufrechterhalten werden. Da aber Vermutungen nur so lange statthaft sind, bis sie durch Fakten widerlegt werden, handelt es sich bei dieser Darstellung augenscheinlich um eine bewusste Fehlinformation bzw. eine Verschwörungstheorie.

Der Fall erinnert an vergleichbare Vorverurteilungen, wie sie etwa anlässlich des Absturzes der MH17 in der Ostukraine 2014 und nach dem vermeintlichen Giftgasangriff im syrischen Duma 2018 unternommen wurden. Das Ziel ist offenbar die Schaffung und Bestätigung von Feindbildern, um einerseits von den Negativfolgen des neoliberalen Systems abzulenken und andererseits Wirtschaftsinteressen vor allem des Rüstungssektors zu bedienen. Die Vehemenz der Vorwürfe, der Einsatz von "Megaphon-Diplomatie" sowie Bemühungen, dem Gegner einen Pariastatus anzuheften, erfüllen aber noch einen weiteren Zweck: die bevorstehende Untersuchung des Falls soll durch Vorwegnahme des Resultats beeinflusst werden.

Ermittler, die sich normalerweise um Wahrheitsfindung bemühen, sehen sich in einer aufgeheizten Atmosphäre vielfach veranlasst, der Staatsräson zu folgen und Vorverurteilungen zu bestätigen. Dies misslingt zuweilen, wie die kritischen Stellungnahmen von Mitgliedern der Fact Finding Mission zum offiziellen OPCW-Abschlussbericht im Duma-Fall offenbarten. Erfahrungsgemäß lassen sich derartige "Kollateralschäden" trotz Diffamierung der Rechercheure und breit befolgter Nachrichtensperre nur begrenzt eindämmen. Je heftiger jedoch die konzertierte Stimmungsmache von Medienwelt, Politik und Teilen der Expertenschaft ist, desto geringer erscheint das Risiko unerwünschter Untersuchungsergebnisse. 

Oppositionelle mit rechtsextremem Hintergrund

Wie im Fall Alexej Nawalnys stützt der Westen mit Protassewitsch einen Vertreter der Opposition, der als rechtsextrem einzustufen ist. Seine Kontakte zum ukrainischen "Regiment Asow" lassen sich nicht bestreiten, da sie gut dokumentiert sind. Angesichts der Abbildungen in Militäruniform an der Seite anderer Kämpfer erscheint die im Westen gestreuten Behauptung wenig überzeugend, er wäre nur als Journalist vor Ort tätig gewesen. Es stellt sich überhaupt die Frage, weshalb Oppositionelle als Aushängeschilder gewählt werden, die im westlichen Machtbereich außerhalb des demokratischen Spektrums angesiedelt wären.

Tatsächlich gibt es mit "Gerechtes Russland" und "Jabloko" russische Pendants zu den hiesigen sozialdemokratischen und liberalen Parteien. Sie haben nur einen Makel: Sie unterwerfen sich nicht der unipolaren Ausrichtung westlicher Globalpolitik, die den USA eine dominante Stellung zuweist. Ebenso wenig sind sie bereit, Narrativen zu folgen, die den imperialen Zielen des Westens dienen und wo Fakten bedarfsweise ignoriert oder einseitig interpretiert werden.

Wenn jene Parteien trotz Anerkennung demokratischer und liberaler Werte dem Westen zunehmend den Rücken kehren, dann folgen sie dem politischen Stimmungswandel innerhalb der Bevölkerung. In einer kürzlich vom Lewada-Institut durchführten Umfrage betrachten nur 29 Prozent der russischen Bürger ihr Land als europäisch, im Vergleich zu noch 52 Prozent im Jahr 2008. Am stärksten ist der Rückgang unter der Jugend. Obwohl sie sich kritischer gegen die eigene Elite positioniert als die "Jelzin-geschädigte" ältere Generation, artikuliert sie gleichwohl ein wachsendes Misstrauen gegenüber Westeuropa und den USA.

Eine ähnliche Distanz zum Westen gibt es in Weißrussland, angestachelt durch den Blick über die Grenze zur Ukraine. Auch ist bekannt, dass in der Bevölkerung wenig Bereitschaft besteht, die Bande zu Russland zu zerschneiden. Vom Westen unterstützte Oppositionelle, die sich als Gegner Wladimir Putins profilieren, dürften daher kaum auf Widerhall stoßen. Wenn zudem eine Bereitschaft zur Unterwerfung unter westliche Machtansprüche höher gewichtet wird als eine demokratische Gesinnung, ist zu erwarten, dass potenzielle Sympathisanten auf Abstand bleiben. Schließlich dürfte ein unfairer Umgang mit den weißrussischen Entscheidungsträgern, wie er aktuell im Kontext mit der Umleitung der Ryanair-Maschine nach Minsk geschieht, antiwestliche Stimmungen verstärken.

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