Russland

Russlands neue Strategie für einen Langzeitkrieg

Die Lage auf dem Kriegsschauplatz zeigt sich vorteilhaft für Moskau, doch eine Eskalation seitens des Westens könnte neue Probleme bereiten. Die Strategie Russlands besteht jetzt offenbar darin, einen Mittelweg zwischen zwei möglichen Szenarien zu finden.
Russlands neue Strategie für einen LangzeitkriegQuelle: AFP © Pavel Bednyakov / RIA NOVOSTI

Von Dmitri Trenin

Präsident Wladimir Putin wurde vergangene Woche beim Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg erneut zur russischen Nuklearstrategie befragt, nachdem Moskau mit der Stationierung von Atomwaffen in Weißrussland begonnen hat. Unterdessen hat in Russland eine öffentliche Debatte über die Möglichkeit eines präventiven Atomwaffeneinsatzes gegen die NATO im Zusammenhang mit dem anhaltenden Stellvertreterkrieg in der Ukraine begonnen.

Putins Antwort darauf brachte keine sonderlichen Überraschungen. Zusammengefasst lautete sie: Atomwaffen gehören nach wie vor in den Werkzeugkasten der russischen strategischen Doktrin, es existiert eine nukleare Doktrin, in der die Bedingungen für einen nuklearen Einsatz klar formuliert sind. Sollte die Existenz des russischen Staates gefährdet sein, werden Nuklearwaffen zum Einsatz kommen. Derzeit besteht jedoch keine Notwendigkeit, auf solche Instrumente zurückzugreifen.

Trotz aller Erwartungen in den USA und in Westeuropa, dass Russland in diesem Konflikt eine strategische Niederlage erleiden wird – was erklärtes Ziel von Washington ist – glaubt Putin nicht, dass sich die Dinge in diese Richtung entwickeln werden. Die lang erwartete und viel besungene ukrainische Gegenoffensive verläuft stotternd und hat für Kiew bisher vor allem schwere Verluste zur Folge gehabt. Das russische Militär wiederum hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und widersteht den ukrainischen Angriffen standhaft.

Westliche Lieferungen von Artilleriesystemen, Panzern und Raketen, von denen die Ukrainer hofften, dass sie die Wende im Kriegsverlauf bringen würden, zeigten keine entscheidende Wirkung auf das Geschehen im Kampfgebiet. Laut Putin ist es Russland gelungen, die eigene Waffen- und Munitionsproduktion fast zu verdreifachen, während sie weiterhin an Fahrt zunimmt. Gleichzeitig ist die einst mächtige Rüstungsindustrie der Ukraine nahezu zerstört.

Nachdem die ersten Versuche Russlands und des Westens, im vergangenen Jahr einen schnellen Sieg zu erringen, gescheitert sind, haben sich beide Seiten mit der Strategie der Zermürbung zufriedengegeben. Die USA und ihre Verbündeten setzten auf eine Verschärfung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland, versuchten eine politische Isolation Moskaus herbeizuführen und hofften, dass die Unzufriedenheit im Inland aufgrund zahlreicher täglicher Entbehrungen und steigender Kriegsopfer zunimmt. Im Prinzip ist dies der offensichtliche strategische Ansatz in einem langen Krieg, in dem der Erfolg nicht so sehr auf dem Schlachtfeld, sondern durch die Untergrabung des Gegners in seinem eigenen rückwärtigen Raum erzielt wird.

Das Problem für den Westen ist, dass diese Strategie nicht funktioniert. Russland hat nicht nur Wege gefunden, die Wirkung westlicher Sanktionen abzufedern, sondern hat sie auch genutzt, um die heimische Produktion wiederzubeleben und anzukurbeln. Tatsächlich haben die Sanktionen das bewirkt, was viele für unmöglich hielten: Sie haben die Wirtschaft des Landes aus dem ausgetretenen Pfad der Abhängigkeit von Öl- und Gasexport herausgeholt. Die Russen lernen erneut, das selbst zu produzieren, was sie früher auch schon produzieren konnten, worum sie sich aber nicht mehr kümmern wollten: Passagierflugzeuge, Züge, Schiffe und dergleichen, ganz zu schweigen von Bekleidung oder Möbeln. Die russische Regierung hat sich sogar noch höhere Ziele gesetzt, nämlich die Wiedererlangung des Niveaus der technologischen Souveränität, die nach dem Untergang der Sowjetunion aufgegeben wurde.

Die politische Isolation vom Westen hat Moskau von seiner traditionellen Fixierung auf Westeuropa und Nordamerika befreit und es dazu gedrängt, die weite Welt der dynamischen, nicht-westlichen Nationen zu entdecken. Dabei handelt es sich nicht nur um China und Indien und den Rest der BRICS-Staaten, sondern auch um die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Iran und die Türkei. Letztes Wochenende teilte Putin in Sankt Petersburg das Podium mit dem Präsidenten Algeriens und empfing eine Friedensmission von sechs afrikanischen Staats- und Regierungschefs. Nächsten Monat ist er Gastgeber eines zweiten Russland-Afrika-Gipfels. Seit Jahresbeginn unternahm Außenminister Sergei Lawrow drei Reisen auf den afrikanischen Kontinent und besuchte dort insgesamt ein Dutzend Länder.

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im nächsten Frühjahr herrscht in Russland insgesamt Ruhe. Putin hat seine Kandidatur noch nicht bekannt gegeben, aber er sieht so entspannt aus wie eh und je, wenn es darum geht, Krieg und Frieden gleichzeitig zu bewältigen. Putin hat die Option abgelehnt, das Land durch wirtschaftliche Mobilisierung und Autarkie, durch eine militärische Generalmobilmachung und das Kriegsrecht in einen Kriegszustand zu versetzen oder Wahlen auszusetzen und in einer modernen Version von Stalins Staatlichem Verteidigungskomitee zu regieren. Stattdessen hat er dem ganzen Land sorgfältig das Bild von Ruhe und Normalität vermittelt und gleichzeitig die Bevölkerung mit den Realitäten eines Krieges jenseits der russischen Grenze konfrontiert.

Die Bevölkerung hat sich weitgehend an diese gespaltene Realität angepasst. Meinungsumfragen zufolge glauben mittlerweile immer mehr Bürger Russlands, dass Russland diesen Krieg gewinnen wird. Die Ängste vor einer breiteren Mobilmachung sind verflogen, und einige derjenigen, die letztes Jahr eilig das Land verlassen haben, kehren wieder zurück. Die Gräben und Zerwürfnisse, die viele Beobachter noch in jüngster Zeit im Putin-Lager zu sehen glaubten, etwa zwischen dem Verteidigungsministerium und dem privaten Militärunternehmen PMC Wagner, wurden offenbar auf Befehl des Präsidenten geschlossen und überwunden. Die liberale Opposition kann nur vom Ausland aus operieren, was dem Argument aus dem Kreml mehr Glaubwürdigkeit verleiht, dass sie mit ausländischen Mächten unter einer Decke stecken, die jene Waffen liefern, mit denen russische Soldaten getötet werden.

Spektakuläre Provokationen seitens der Ukrainer – etwa die Überfälle auf die russische Region Belgorod, der Beschuss von Grenzstädten und -dörfern, der Einsatz von Drohnen über Moskau und anderen Städten im Landesinneren sowie Attentate auf prominente russische Persönlichkeiten – werfen zwar Fragen zu den Löchern im System der inneren Sicherheit Russlands auf, haben aber insgesamt gleichzeitig die Argumente des Kremls gestärkt, dass das derzeitige Regime in Kiew nicht toleriert werden darf.

Moskaus aufkommende Strategie für einen Langzeitkrieg zielt darauf ab, die Stärken Russlands zu nutzen und gleichzeitig die Schwachstellen der Ukraine und die Einschränkungen des Westens auszunutzen. Im Kreml scheint man zuversichtlich, dass man die Kriegsindustrie ankurbeln und trotzdem sowohl für Waffen als auch für Brot und Butter sorgen kann, zusätzliche Vertragssoldaten rekrutieren und die Vorteile bei den Luftstreitkräften und der Artillerie voll einsetzen und gleichzeitig die Lücken bei den Drohnen und den Kommunikationssystemen schließen kann.

Im Kreml geht man außerdem davon aus, dass durch die weitaus höhere Verlustrate der Ukraine und die sich bald zeigende Ernüchterung über die fehlende Fähigkeit zum Gegenangriff – trotz aller Unterstützung aus dem Westen – das Vertrauen der Bevölkerung in die derzeitige Führung in Kiew untergraben wird, insbesondere in den Präsidenten Wladimir Selenskij. Der erbitterte Krieg lastet auf der Ukraine viel schwerer als auf Russland.

Was den Westen betrifft, so wiederholt dieser sein Mantra, die Ukraine zu unterstützen, so lange wie es notwendig sei. Die russische Strategie geht davon aus, dass ein Zusammenbruch der Ukraine nicht länger als notwendig erachtet wird. Abgesehen davon glauben die Russen, dass es zwei Dinge gibt, vor denen sich die US-Amerikaner und vor allem die Westeuropäer wirklich fürchten. 

Das Erste ist ein direkter Zusammenstoß mit der russischen Armee, der den Ukraine-Konflikt in einen ausgewachsenen Krieg zwischen Russland und der NATO verwandeln würde. Angesichts der Machtunterschiede ist es unwahrscheinlich, dass ein solcher Krieg lange konventionell bleiben wird, weshalb der Kreml in diesem Fall zur nuklearen Option greifen wird, so wie es Russlands Doktrin vorsieht. Das Zweite ist die Möglichkeit eines europäischen Krieges, der einen nuklearen Schlagabtausch zwischen Russland und den USA provozieren könnte, was wiederum den Planeten zerstören würde.

Eine wirksame Abschreckung verbindet in der Regel Gewissheiten mit Unsicherheiten. Die Gewissheit, dass ein Gegner in der Lage ist, eine inakzeptable Bedrohung darzustellen, und die Ungewissheit darüber, welche genauen Maßnahmen er ergreifen würde, wenn er provoziert wird.

Die Strategie der USA gegenüber Russland in der Ukraine besteht darin, die Grenzen immer weiter auszureizen, indem sie ihre militärische Unterstützung für die Ukraine Schritt für Schritt ausweiten und so jedes Mal die Reaktion Russlands auf jede neue Eskalationsstufe prüfen. Bisher scheint es für Washington so gut zu laufen. Ab einem bestimmten Punkt könnte eine solche Praxis diese kalkulierte Strategie jedoch in "russisches Roulette" verwandeln. Die geplante Ankunft der F-16 und die mögliche Lieferung von Raketen mit größerer Reichweite würden die Situation diesem Punkt näher bringen. Daher bestätigt Putin, dass die nukleare Option zum jetzigen Zeitpunkt zwar unnötig, aber nicht vom Tisch ist. Tatsächlich würde wahrscheinlich keine Atommacht zulassen, von einer anderen besiegt zu werden, ohne die ultimative Option auszuüben.

Aber kehren wir von den Szenarien des Weltuntergangs zurück zur derzeitigen Situation. Die Strategie des Kremls besteht offenbar darin, einen Mittelweg zu finden zwischen denen, die den Konflikt einfrieren und die Errungenschaften vor Ort festschreiben möchten, und denen, die eine Eskalation zum Nuklearkrieg als Weg zum Sieg vorschlagen. Im Gegensatz zu den beiden Ansätzen, die ein frühes Ergebnis anstreben, ist der tatsächliche Kurs, den man mit bloßem Auge beobachten kann – und wer weiß, was dem Auge verborgen bleibt –, der eines langwierigen, zermürbenden Engagements, das aufgrund der Kräfteverhältnisse, der Ressourcen, der Widerstandsfähigkeit und Opferbereitschaft letztlich zum Sieg Russlands führen wird.

Wie alle Strategien, die auf Durchhaltevermögen basieren, wird diese jetzt sowohl an der Heimatfront als auch an der vordersten Front hart auf die Probe gestellt.

Aus dem Englischen.

Dmitri Trenin ist Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Senior im Kollegium für Forschung am Institut für globale Ökonomie und internationale Beziehungen. Er ist zudem Mitglied des russischen Rates für internationale Beziehungen.

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