Europa

Phantom Großukraine – Ukraine erhebt Ansprüche auf "ukrainisch besiedelte" Gebiete in Russland

Ein Dekret des ukrainischen Präsidenten erhebt historische Ansprüche auf mehrere russische Regionen im Südwesten – die ukrainische Identität müsse in diesen Regionen bewahrt werden. In Russland wird der Schachzug als Ausdruck des Wahnsinns oder Polittrolling wahrgenommen. Doch seine Folgen könnten politisch weitreichend sein.
Phantom Großukraine – Ukraine erhebt Ansprüche auf "ukrainisch besiedelte" Gebiete in Russland

Von Wladislaw Sankin

Der ukrainische Präsident sieht die in aller Welt lebenden Ukrainer als globales reißfestes Netzwerk und will nun allen Ukrainischstämmigen, die in den letzten 150 Jahren in mehreren Wellen in alle Himmelsrichtungen ausgewandert sind, eine ukrainische Staatsbürgerschaft verleihen. Das neue vereinfachte Verfahren erlaubt neben der ukrainischen auch den Besitz anderer Staatsbürgerschaften. Um dies zu verkünden, stellte er sich im schwarzen Sweatshirt mit dem Schriftzug "I'm Ukrainian" auf den Miсhailowski-Platz im Zentrum Kiews vor jahrhundertealte Kirchen und sprach in einer blumigen Rede über den weltweiten Zusammenhalt der Ukrainer. Die Regelung schließt indes Millionen in Russland lebende ukrainische Staatsbürger aus – die ukrainische Staatsbürgerschaft wird ihnen als Bürgern des "Terror- und Aggressor-Staates" entzogen. 

Doch, es wäre falsch zu behaupten, dass der Präsident aller Ukrainer sich um die russischen Ukrainer nicht kümmern würde. Im Gegenteil. Statt der Staatsbürgerschaft bietet er ihnen jetzt Schutz vor Verfolgung und Unterdrückung – per Dekret. Das Dokument trägt den Titel "Über die historisch von Ukrainern besiedelten Gebiete Russlands". Darin bezeichnet Selenskij die russischen Regionen Belgorod, Brjansk, Woronesch, Kursk, Rostow am Don und Krasnodar als eigentlich ukrainisch.

Russland, so Selenskij, zerstöre seit Jahrhunderten die ukrainische Identität und zwinge die Menschen in diesen Regionen, unter der Herrschaft Moskaus zu leben. Deswegen habe er die Ausarbeitung eines "Aktionsplans für die Bewahrung der ukrainischen Identität in Russland" angeordnet. Laut dem Dekret sollen die Menschen in den besagten russischen Regionen Unterricht auf Ukrainisch erhalten und die Sprache frei sprechen können. Ebenso sollen sie Zugang zu ukrainischsprachigen Medien erhalten. "Es ist die Rückkehr der Wahrheit über die historische Vergangenheit für die ukrainische Zukunft", sagte Selenskij anlässlich des Tags der ukrainischen Einheit am 22. Januar.

Im Text des Dokuments ist außerdem von der Vorbereitung und Durchführung von Veranstaltungen die Rede, "die darauf abzielen, russische Mythen über die Ukraine zu entlarven." Das Dekret weist die Regierung an, gemeinsam mit der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine Materialien "über die mehr als tausendjährige Geschichte des ukrainischen Staates, über die historischen Verbindungen zwischen den von ethnischen Ukrainern bewohnten Gebieten und den ukrainischen nationalen Staatsgebilden in verschiedenen historischen Epochen" zu erstellen, sie in der Ukraine und in der Welt zu verbreiten, und diese Materialien auch in Bildungsprogramme aufzunehmen. Der Präsident weist zudem an, die Beziehungen zwischen den Ukrainern und den von Russland "versklavten Völkern" zu intensivieren.

Der letzte Punkt erinnert sehr stark an die Rhetorik des von ukrainischen Nazi-Kollaborateuren in den USA geführten "Antibolschewistischen Blocks der Nationen", der auf die Zerteilung der Sowejtunion entlang der ethnisch-nationalen Trennungslinien abzielte. Die Zerschlagung Russlands in viele Kleinstaaten unter der Ägide der "nationalen Befreiung", das ist der Jahrhunderttraum der ukrainischen Nationalisten und sonstiger Russlandhasser. Unterstützt wurden solche Bemühungen traditionell von Deutschland und den angelsächsischen Ländern. Im Hinblick darauf sagte die russische Politanalystin Elena Panina, dieses Dekret sei Teil der westlichen Strategie zur Destabilisierung und Spaltung der russischen Grenzgebiete entlang der ethnischen Linien. 

Doch sie gehört zu den wenigen russischen Kommentatoren, die den Vorstoß Selenskijs als ernst zu nehmendes Vorhaben bewerten. Das Dekret bot beispielsweise wieder Anlass für den russischen Ex-Präsidenten Dmitri Medwedew, mit einem höhnischen Kommentar zu reagieren. Es sei ein Propagandaschachzug, der durch den Misserfolg an der Front verursacht worden sei. "Dazu gibt es nichts zu sagen, denn die Ukrainer sind Russen, und Malorossija (Kleinrussland) ist ein Teil Russlands", schrieb er auf Telegram und veröffentlichte historische Karte des europäischen Teils Russlands, mit der künftigen Ukraine als dessen Bestandteil. 

Es ist in der Tat schwer, das Dekret als ernste Angelegenheit zu kommentieren. Wie will die Ukraine den russischen Ukrainern zur Wahrung ihrer nationalen Identität verhelfen und ihnen Zugang zu ukrainischen Medien ermöglichen, wenn diese für die Nutzung auf digitalen Endgeräten mit russischen Mobilfunknummern von der Ukraine aus selbst gesperrt sind?! Auch der Entzug der ukrainischen Staatsbürgerschaft als Strafe für den Besitz der russischen steht im krassen Widerspruch zu den angeblichen Zielen des Dekrets.

Deshalb ist dieses Dekret vor allem als Teil der psychologischen Kriegsführung zu verstehen. In Russland gibt es in der Tat viele Millionen Menschen mit ukrainischen Wurzeln – Grund dafür ist vor allem die Binnenmigration innerhalb des Russischen Reiches und der Sowjetunion. Diese Menschen sind aufgrund der engen Kulturverwandtschaft beider Völker schon längst assimiliert und verstehen sich als Russen, und nicht als Teil einer ethnischen Gemeinschaft. Was aber auch wahr ist: Seitdem die Ukraine eine antirussische Politik verfolgt und vermeintliche Sprachprobleme zum Politikum erhoben hat, standen auch einige ukrainische Landmannschaftseinrichtungen in Russland in Verdacht nationalistisches Gedankengut zu verbreiten, und mussten schließen.

Dennoch ist das Dekret alles andere als ein Witz oder politisches Trolling. Kiewer Strategen sehen in der Zerstörung des russischen Staates die Chance, auf dessen Trümmern eine Groß-Ukraine zu errichten und mithilfe des Westens zu Hauptverwaltern der russischen Naturreichtümer zu werden. Mit dieser Politik untergraben sie jedoch die letzten Chancen, in Zukunft auch als Rumpf-Ukraine bestehen zu können. Die bekannte ukrainische Exil-Journalistin Diana Pantschenko hat die Gefahr erkannt. "Ihr solltet das nicht auf die leichte Schulter nehmen", warnte sie auf Telegram. "Es ist keine Ablenkung. Alles ist viel ernster." Sie wandte sich an ihre Leser mit einem Gedankenspiel: 

"Freunde, lasst uns darüber nachdenken, wenn als Ergebnis dieses Krieges nur noch ein Lwow von der Ukraine übrig bleibt, das territoriale Ansprüche auf Russland erhebt – was wird Russland dann tun?

Richtig! Lwow vernichten.

Dieses Dekret zwingt Russland rechtlich dazu, 'bis zum letzten Ukrainer' zu kämpfen."

Im Kreml ist das Dekret jedenfalls bereits mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen worden. Als "absurde Schritte" und "vergebliche Mühe" bezeichnete der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, den Vorstoß. Damit versuche das Kiewer Regime von den "unlösbaren Problemen" im Zusammenhang mit der sinkenden Unterstützung des Westens und des eigenen Volkes abzulenken. 

"Die Situation wird für Kiew immer schwieriger und schwieriger. Und wir werden die militärische Sonderoperation fortsetzen, bis ihre Ziele erfüllt werden", schloss er mit Nachdruck. 

Und wie sieht die Reaktion auf das Dekret in Deutschland aus? Berlin ist der größte europäische Geldgeber Kiews und es wäre folgerichtig, wenn solche Großmäuligkeit des Hilfeempfängers Selenskij zumindest kommentiert worden wäre. "Nationalistischer Wahnsinn, gefährliche Töne" – schrieb Neues Deutschland dazu. Ansonsten – Schweigen im Blätterwald. Die offiziellen Ansprüche Kiews an Russland wollen die deutschen Medien nicht wahrhaben. 

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