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Warum die USA der Ukraine mit ziemlicher Sicherheit nie erlauben werden, der NATO beizutreten

Die Ukraine sieht sich bitteren Tatsachen gegenüber: Zum ersten Mal in der Geschichte, ist eine Erweiterung der Allianz zur Bedrohung für Washington selbst geworden. Eine Einladung an Kiew, der NATO beizutreten, könnte eine völlig neue Dimension in die US-amerikanische Außenpolitik bringen.
Warum die USA der Ukraine mit ziemlicher Sicherheit nie erlauben werden, der NATO beizutretenQuelle: Gettyimages.ru © Dursun Aydemir / Anadolu Agency über Getty Images

Von Timofei W. Bordatschow

Im Zuge der Ukraine-Krise haben sich die Vereinigten Staaten zum ersten Mal in der Geschichte bei der Festlegung der Grenzen ihrer militärischen Präsenz in Europa ernsthaften Risiken ausgesetzt. Jeder ernstgemeinte Versuch Washingtons, Kiew in die NATO einzuladen, würde die Bereitschaft zu einer direkten militärischen Konfrontation mit Russland nach sich ziehen. Eine weniger riskante Option bestünde nach Ansicht vieler Beobachter darin, dem Regime von Wladimir Selenskij einige "besondere" bilaterale Sicherheitsgarantien anzubieten.

Die Militärallianz NATO entstand nach dem Zweiten Weltkrieg, auf der Grundlage der tatsächlichen Aufteilung Europas in Einflusszonen zwischen den USA und der UdSSR. Als Folge der größten bewaffneten Konfrontation in der Geschichte der Menschheit, verlor der Großteil der europäischen Staaten für immer die Freiheit, grundlegende Fragen ihrer nationalen Politik selbst zu bestimmen. Dazu gehörten in erster Linie die Verteidigung und die Fähigkeit, Bündnisse mit anderen Ländern einzugehen. Europa war zwischen den wahren Gewinnern des Zweiten Weltkriegs aufgeteilt – zwischen Moskau und Washington. Nur Österreich, Irland, Schweden, Finnland und die Schweiz lagen außerhalb ihrer Herrschaftsbereiche.

Beide Großmächte hatten das informelle Recht, die innere Ordnung der von ihnen kontrollierten Gebiete zu bestimmen. Dies lag daran, dass die betreffenden Länder ihre Souveränität als solche verloren hatten. Selbst Frankreich, das über mehrere Jahrzehnte weiterhin seine Unabhängigkeit demonstrierte, ließ keinen Zweifel daran, auf wessen Seite es im Falle eines neuen globalen Konflikts kämpfen würde.

Die NATO wurde 1949 gegründet, um den Verbündeten der USA offiziell die Möglichkeit zu nehmen, ihre eigenen außenpolitischen Entscheidungen zu treffen und eigene Militärdoktrinen zu verfolgen. In dieser Hinsicht unterschied sich dieses Bündnis nicht vom Warschauer Pakt, der rund 6 Jahre später im Einflussbereich der UdSSR entstanden war.

Die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und den anderen NATO-Staaten waren nie ein Bündnis im herkömmlichen Sinne. Im vergangenen Jahrhundert ging die Ära der Existenz klassischer Allianzen ihrem Ende entgegen – zu groß wurde die Kluft in den militärischen Fähigkeiten zwischen den nuklearen Supermächten und allen anderen Staaten der Welt. Ein militärisches Bündnis zwischen relativ Gleichen ist möglich, wie es bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts der Fall war, aber Atomwaffen haben dies unmöglich gemacht.

Die ehemals souveränen Staaten Europas wurden zu einer territorialen Basis, von der aus die Großmächte in Frieden verhandeln oder im Krieg agieren konnten. Die Gründung der NATO und der anschließende Beitritt von Ländern wie Griechenland, der Türkei, Spanien und Westdeutschland zu dem Bündnis stellten eine Formalisierung der Grenzen der US-Dominanz dar, denen die UdSSR in den bilateralen Beziehungen bereits zugestimmt hatte.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Ausweitung der US-amerikanischen Herrschaft auf Moskaus ehemalige Verbündete in Osteuropa – und sogar auf die baltischen Republiken – ebenfalls keine Politik, die für Washington ernsthafte Risiken mit sich brachte. Aus diesem Grund gibt es innerhalb der NATO übrigens eine informelle Regelung, nach der die Aufnahme von Staaten mit ungelösten Territorialstreitigkeiten nicht vorgesehen ist. Der NATO-Osterweiterung nach dem Kalten Krieg ging eine Täuschung Moskaus voraus, bei der Washington dem Kreml versprach, das Bündnis nicht bis an die Grenzen Russlands auszudehnen. Russland hatte seinerseits zunächst nicht die physische Kraft, Widerstand zu leisten. Dies bedeutete, dass die USA "herrenlose" Staaten in die NATO absorbieren konnten, ohne dass ein unmittelbarer militärischer Konflikt mit Russland drohte. Der Ansatz der USA gegenüber der NATO blieb jedoch der Philosophie der Siegerstaaten von 1945 treu: Es gibt keine souveränen Staaten, sondern nur unter Kontrolle stehende Gebiete.

Nachdem die Entscheidung zur NATO-Osterweiterung in Washington gefallen war, ging es letztlich nur noch um die Strategie, mit der man sicherstellen wollte, dass die einzelnen Regierungen die "richtigen" Entscheidungen treffen. Dies gilt umso mehr, als der Beitritt neuer Länder zur NATO in den 1990er und 2000er Jahren mit der Erweiterung der Europäischen Union verknüpft war. Dies gab den lokalen Eliten allen Anreiz, einen Beitritt zur EU anzustreben, von dem man sich greifbare materielle Vorteile erhoffte. Für einige – die baltischen Staaten und Polen – bot die Mitgliedschaft in der Union auch die Möglichkeit, internen Problemen durch eine aggressive antirussische Politik zu begegnen, indem die Angst vor dem großen Nachbarn im Osten geschürt wurde. In den baltischen Staaten nutzten die Eliten den Status eines Außenpostens der USA, auch zur Bekämpfung der internen Opposition durch radikale Nationalisten.

Für die neu der EU beigetretenen Länder wurde die NATO zu einem Garanten für innere Stabilität. Da die wichtigsten Entscheidungen außerhalb ihrer nationalen politischen Systeme getroffen wurden, bestand kein Grund für interne Rivalitäten und keine Gefahr einer ernsthaften Destabilisierung. Natürlich ist kein Land vor innenpolitischen Unruhen sicher, wie sie beispielsweise bei radikalen Forderungen nach einem Regierungswechsel verursacht werden – vor allem dann, wenn diejenigen, die gerade an der Macht sind, in Washington nicht sonderlich beliebt sind. Aber radikale Veränderungen, die in der Regel außenpolitische Fragen betreffen, sind nahezu unmöglich geworden.

In diesem Sinne ähnelt Westeuropa immer mehr Lateinamerika, wo die abnehmende Lebensqualität der Bevölkerung keine dramatischen Folgen für die Eliten hat. Dort ist die geografische Nähe zu den USA schon seit langem ein Grund dafür, weshalb Washington eine nahezu vollständige Kontrolle über diese Region ausübt. Die einzigen Ausnahmen bilden Kuba und seit ein paar Jahrzehnten auch Venezuela.

Ein Beitritt zur NATO ist ein Tausch staatlicher Souveränität gegen den unbefristeten Machterhalt der herrschenden Eliten. Und genau da liegen die tieferen Beweggründe im Wunsch politischer Eliten, dieser Militärallianz beizutreten: Es gibt ihnen die Aussicht auf "Unsterblichkeit", trotz etwaiger innenpolitischer oder wirtschaftlicher Misserfolge. Die Regime in Osteuropa und im Baltikum erkannten sehr bald, dass sie nicht lange an der Macht bleiben würden, ohne sich unter die Kontrolle Washingtons zu begeben. Der Bruch mit Moskau und die geografische Randlage ihrer Länder eröffneten die Aussicht auf zu viele Probleme.

Und auch Finnland ist jetzt der NATO beigetreten, weil die dortigen Eliten kein Vertrauen mehr in die eigenen Fähigkeiten haben, ihre Macht aus eigener Kraft aufrechtzuerhalten.

Für die Vereinigten Staaten selbst stellte die Ausweitung ihrer Präsenz in Europa, wie wir gesehen haben, nie eine ernsthafte Bedrohung oder ein ernsthaftes Risiko dar. Zumindest bis jetzt. Gerade darauf weisen diejenigen in den USA hin, die ein vorsichtiges Vorgehen gegenüber den Beitrittsforderungen aus Kiew fordern – eine Forderung, die auch von einigen Mitgliedern der Allianz unterstützt wird. Es versteht sich von selbst, dass ein direkter militärischer Zusammenstoß zwischen Russland und der NATO in einen globalen Atomkrieg münden würde. Dennoch glaubten die USA zu Zeiten der Sowjetunion, dass man einen militärischen Konflikt mit der UdSSR auf Europa eingrenzen könnte und dass keine direkten Angriffe auf das Kernterritorium des jeweils anderen stattfinden würden. Es gibt Grund zu der Annahme, dass es Moskau während des Kalten Krieges genauso sah.

Bei der Osterweiterung der NATO nach dem Kalten Krieg ging es um die Absorption von Gebieten, um die niemand kämpfen wollte. Allerdings geht es im Falle der Ukraine für die USA jetzt nicht darum, neues Territorium zu erschließen, sondern darum, es einer rivalisierenden Großmacht nicht zu überlassen. So etwas hat es in der Geschichte der NATO bisher noch nie gegeben. Daher kann man diejenigen in Westeuropa und den USA sehr gut verstehen, die eine ernsthafte Abwägung der wahrscheinlichen Folgen eines NATO-Beitritts der Ukraine fordern.

Eine Einladung an die Ukraine, der NATO beizutreten, könnte eine völlig neue Dimension in die US-amerikanische Außenpolitik bringen, nämlich die Bereitschaft, eine militärische Auseinandersetzung mit einem Gegner auf Augenhöhe auszutragen – mit Russland. Im Laufe ihrer Geschichte sind die USA einer solchen Auseinandersetzung jedoch stets aus dem Weg gegangen, weshalb sie jeweils andere Staaten als Rammböcke eingesetzt haben, die bereit waren, für US-amerikanische Interessen Opfer zu bringen und zu leiden. Dies war sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg der Fall.

Das wahrscheinlichste Szenario ist daher, dass die USA sich darauf beschränken werden, zu versprechen, die Frage der Ukraine und der NATO anzugehen, nachdem das Kiewer Regime seine Probleme mit Moskau auf die eine oder andere Weise gelöst hat. In der Zwischenzeit wird man Kiew lediglich einige "besondere" bilaterale Sicherheitsgarantien anbieten.

Aus dem Englischen

Timofei W. Bordatschow (geboren 1973) ist ein russischer Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der HSE Universität in Moskau. Unter anderem ist er Programmdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.

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